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Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel

Titel: Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana L. Paxson
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Eormenric lag ruhig an ihrer Brust. Doch ihre befreite Seele kehrte in die Schranken ihres Körpers zurück. Sie hörte mit ihren sterblichen Sinnen, folglich mussten die Worte, die sie hörte, eine greifbare Quelle haben.
     
    »Auf jener Weide, die der Pferde Fell zum Glänzen bringt,
    Wo alle Frühlingsblumen wild gedeihen,
    Erfüllt der Anis mit seinem Duft die Lüfte.«
     
    Gwendivar richtete sich ein wenig auf und drehte den Kopf. Sie erblickte einen Mann, der in einem der Apfelbäume hockte. Seine Glieder wirkten knorrig und braun wie die Äste. Im ersten Augenblick wirkte der Anblick vollkommen natürlich, als wäre er dort gewachsen. Und so erschrak sie nicht, als ihr die wiederkehrenden Sinne das abstrakte Muster eines bärtigen Antlitzes und eines knochigen Leibes als die Gestalt Merlins offenbarten. Als er ihren Blick auf sich bemerkte, glitt der Druide vom Baum herunter und ergriff den Stock, den er an dessen Stamm gelehnt hatte.
     
    »Und dort gießt unsere Königin Aphrodite
    Himmlischen Nektar in goldene Becher,
    Die sie anmutig mit jäher Freude füllt.«
     
    »Heidnische Worte…«, sprach Gwendivar leise, »an einem solch heiligen Tag.«
    »Heilige Worte, die zum ersten Mal von einer liebreizenden Dame auf den griechischen Inseln für die Göttin gesungen wurden. In jenen Tagen war es der Tod ihres Geliebten Attis, den die Frauen im Frühling betrauerten. Die Götter sterben und werden wiedergeboren, die Göttin hingegen ist unvergänglich wie die Erde. Du weißt, dass es wahr ist – ich sehe es in deinen Augen.« Merlin kam näher, kauerte sich auf die Hacken und lehnte den Stock an seine Schulter.
    »Vielleicht… aber ich bin keine Göttin, die man mit solchen Worten anruft.«
    »Wirklich?« Er lachte leise. »Zumindest bist du ihr Ebenbild, wie du hier mit deinen Söhnen in den Armen sitzt.«
    Erschrocken schaute Gwendivar zu ihm auf, als sie sich des Gefühls der Einheit besann, das sie erst vor wenigen Augenblicken erfahren hatte. Wie konnte der alte Mann wissen, was sie empfand? Als er zuletzt versucht hatte, mit ihr zu reden, war sie vor ihm weggerannt, doch nun konnte sie die schlafenden Knaben nicht stören.
    »Auch für die Krieger deines Gemahls bist du der Göttin Ebenbild, ihre Herrin und Königin.«
    »Aber nicht für meinen Gemahl«, sagte Gwendivar bitter.
    »Alles verändert sich, auch er, auch du. Ist es nicht so?«
    »Sogar Ihr?«, fragte sie.
    Er lachte leise. Seine langen Finger strichen über den Stab, der an seinem Arm ruhte. Der Knauf war in vergilbtes Leinen gehüllt, doch nun sah sie, dass seltsame Symbole den Schaft überzogen.
    »Ich war ein Lachs im Fluss und ein Hirsch auf dem Hügel, eine Eichel im Wald war ich und ein Falke im Wind. Einst war ich ein alter Mann, nun aber bin ich jung wie der Wölfling, der diesen Frühling geboren wurde…«
    Es stimmte, dachte Gwendivar. Er hatte sich keineswegs wie ein greiser Mann bewegt, obwohl das Fell, das seinen Körper bedeckte, grau wie eines Wolfes Pelz war und in seinem Haar und Bart Strähnen reinen Silbers schimmerten.
    »Manchmal glaube ich, alt zu werden, ohne je meine Blüte erlebt zu haben, dass ich jäh von der Jungfräulichkeit ins Greisenalter übergehe…«, gestand Gwendivar schließlich.
    »Glaubst du etwa, die Fruchtbarkeit des Leibes sei die einzige Fruchtbarkeit? Ich war ein Vater für Artor, obwohl ein anderer Mann ihn gezeugt hat. Nicht was man erhält, sondern was man gibt, verschafft Erfüllung. Du musst eine Mittlerin der Macht werden.«
    Ceawlin regte sich, und sie besänftigte ihn mit einer zärtlichen Berührung. »Wie?«, fragte sie, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.
    »Du hast es bereits getan, als du die Macht der Erde durch den Baum geleitet hast. Erschaffe ein Bild der Herrin des Lebens, die hinter dir steht, und du wirst zu einem Tor, durch das ihre Kraft fließen kann.«
    Konnte sie wagen, ihm dies zu glauben? Sie hätte ihn gern eingehender befragt, doch Eormenric öffnete die Augen und richtete sich mit erstauntem Blick auf, als er Merlin sah. Auch Ceawlin, der durch die Bewegung gestört wurde, erwachte.
    »Was macht er denn hier?«, flüsterte Eormenric.
    »Er ist all der alten Zauberkünste mächtig«, antwortete Gwendivar. »Er wird dafür sorgen, dass es deinem Freund gut geht…«
    Und Merlin erhob sich bei diesem Stichwort in einer einzigen, fließenden Bewegung, kam zu ihr, ließ die Hände über den Körper des Knaben wandern und legte sie schließlich auf dessen Stirn.

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