Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel
Herrin vom See sein würde. So viele Jahre habe ich gegen meine Mutter gekämpft, weil ich fürchtete, sie würde meine Vorbestimmung nicht anerkennen. Und nun hat mich mein Schicksal ereilt, und ich fürchte mich trotzdem.«
»Auch sie hat sich gefürchtet…«, antwortete Merlin. »So wie du war auch sie lange vom See fort gewesen. Aber du bist in den Genuss gekommen, von deiner Mutter in die Geheimnisse eingeweiht worden zu sein. Viel von der alten Weisheit ist verloren gegangen – es liegt an dir, zu bewahren, so viel du kannst. Ich kenne deine Geheimnisse nicht…«, brachte er mühevoll hervor, »aber du hast den Kessel. Ruf deine Göttin an – gewiss wird sie dich trösten.«
»Und Euch«, gab sie zurück.
Merlin schüttelte den Kopf. »Meine Göttin hat die Welt verlassen…«
Voller Erstaunen blickte Morgause ihn an. Erst jetzt begriff sie, dass diesem Mann, wie ihrem Vater, Igraines Liebe verweigert worden war. Der Wind blies nun wieder heftiger und pfiff durch die Bäume. Merlin hatte sich umgewandt, um über den See zu den Anhöhen zu schauen, wo die Wolken in jenen wenigen Augenblicken zu doppelter Größe angeschwollen waren.
»Ich muss gehen«, verkündete er schließlich. »Deine Mutter ist nun Hochkönigin im Jenseits, und in dieser Welt ist Gwendivar die Tigernissa. Du aber bist die Herrin vom See, Morgause – die Verborgene Königin, die Weiße Rabin Britanniens. Wache wohl über das Land!«
Er fesselte ihren Blick, und sie sah in seinen Augen eine von Glanz gekrönte Frau.
»Ich bin die Herrin vom See…«, sprach sie und nahm damit das Bild als ihr eigenes an. »Und wer bist du?«
Die Gewissheit in Merlins Augen erstarb und wich Trostlosigkeit. »Ich bin ein im Wind treibendes Blatt… ein von der Brandung geglätteter Fels… ein sonnengebleichter Knochen… Ich weiß nicht, was ich bin; ich weiß nur, dass mein Körper in einer Welt lebt, die meinem Geist fremd ist. Dort droben«, er deutete auf die Hügel, »werde ich es vielleicht erfahren…«
Oberhalb der Bäume betrat man das Königreich des Windes. Merlin kämpfte sich empor und taumelte, als eine neue Bö über den Hang fegte und die purpurnen Glocken des Heidekrauts eine stumme Warnung läuteten. Ein vom Windstoß erfasster Zaunkönig wurde kreischend himmelwärts gewirbelt. Wolken türmten sich über ihm auf, peitschten Regentropfen herab. Merlin stolperte, stieß den Speer in die Erde, um das Gleichgewicht zu halten, und rappelte sich wieder auf.
»Wehe! Wehe! Blas voller Zorn!«, brüllte er und ballte die Fäuste gen Himmel. Diese Naturgewalt mochte wohl grausam für den Körper sein, doch sie spiegelte die Pein seiner Seele. »Weine, Welt, lass meinen Kummer mit jedem Windstoß entweichen!«
Er machte einen Schritt nach vorn, erkannte, dass er nicht mehr höher gelangen konnte und sank auf die Knie. »Wieso«, keuchte er, »lebe ich noch?«
Die Stimmen des Windes zerrten an Haar und Bart. Merlin umklammerte den Schaft des Speeres, spürte, wie er unter seinen Händen gleich einem Baum im Wind erbebte, und plötzlich wurde ihm die Bedeutung der Worte klar.
»Du wirst diese Welt erst verlassen, wenn du es willst…«
»Also bin ich weniger als menschlich?«
»Vielleicht bist du mehr…«
Merlin schauderte. Die Stimme war überall um ihn herum – im Heulen des Windes, im Beben des Speerschafts, im Rasseln der Luft in seiner Kehle. Er schüttelte den Kopf.
»Wer bist du?«
Die Luft erzitterte vor Gelächter. »Ich bin jeder Atemzug, den du tust, jeder Gedanke, den du denkst; ich bin Ekstase.« Abermals ertönte das Gelächter. »Du trägst meinen Speer…«
Merlin zuckte zusammen. »Der Gott der Sachsen!«
»So kannst du mich nennen, oder Lugos, wenn dir das besser behagt, oder Merkur. Ich bin in vielen Landen gewandelt, wurde mit zahlreichen Namen bedacht. Wenn die Menschen Verstand, Willen und Worte benutzen, bin ich da. Und du trägst meinen Speer seit einem Dutzend Winter. Weshalb bist du so überrascht?«
»Wieso hast du es zugelassen? Was hast du mit mir vor?«
»O Mann der Weisheit! Begreifst du selbst jetzt noch nicht?«
Unvermittelt erstarb der Wind. Der Sturm verzog sich. Merlin starrte gen Himmel, als das Licht des Sonnenuntergangs plötzlich hinter den Wolken hervorbrach und die Welt in Gold tauchte. Mochte ihn auch seine Trauer um Igraine ewig begleiten, doch nun kreisten in seinen Gedanken Sätze, Rätsel, Einblicke, Vorstellungen und eine gewaltige Neugier. Am Speer nach Halt suchend,
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