Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel
geschrieben, zudem wirkte die Schrift noch kantiger.
»Tolosa ist gefallen. Die Wisigoten befinden sich in vollem Rückzug, und die Franken prahlen, sie würden sie bis hinter die Pyrenäen treiben. Wahrscheinlich haben sie Recht. Alarich muss sich bestimmt verzweifelt wünschen, eine Gebirgskette zwischen sich und seine Feinde zu bringen. In Iberia wird er eine Weile in Sicherheit sein. Aber ich sehe voraus, dass ihn eines Tages ein Frankenkönig verfolgen wird, der von einem Kaiserreich träumt. Es sei denn, wir sind in der Lage, ihren Übermut zu brechen. Schon sehen wir Flüchtlinge aus Tolosa, sowohl Römer als auch Goten. Wenn sie sich an den Kämpfen hier beteiligen wollen, sind sie uns durchaus willkommen. Einige schicke ich vielleicht zu dir nach Britannien.
Wache wohl über mein Königreich, meine Königin. Du hältst mein Herz in Händen…«
Wie, überlegte Gwendivar, sollte sie dies auffassen? Gewiss bezog Artor sich auf das Land, doch kurz fragte sie sich, wie es wäre, nicht nur sein Pflichtgefühl, sondern auch seine Liebe für sich zu beanspruchen. Als sie Merlins Reimen lauschte, hätte sie es beinahe begriffen. Doch selbst unbekleidet behielt Artor seine geistige Rüstung an, und der Augenblick einer Möglichkeit war verstrichen. Es würde einer noch größeren Macht als der Merlins bedürfen, um ihn zurück in ihre Arme zu bringen, dachte sie traurig…
Sie versuchte sich einzureden, dass die Abwesenheit ihres Gemahls sie zu einer wahren Königin gemacht hatte. War sie immer noch schön? Sie wusste es nicht – die Menschen hatten begriffen, dass sie Lob ob ihres Charakters höher schätzte. Gwendivar war in die Befehlsgewalt hineingewachsen, die Artor ihr überantwortet hatte, und sie hatte festgestellt, dass sie die Gabe besaß zu herrschen. Als seine Gemahlin mochte sie wohl versagt haben, nicht jedoch als Britanniens Königin.
Aber jeder Brief enthüllte mehr von dem Menschen, der sich im König verbarg, von der menschlichen Seele, die so sorgsam auf der Hut gewesen war, wenn sie allein waren. Seit Beginn des Gallien-Feldzuges war Artor erst dreimal zurück in Britannien gewesen. Dabei hatte es sich lediglich um kurze Besuche gehandelt, die er dazu nutzte, Streitigkeiten zwischen den Fürsten zu schlichten oder sie zu überreden, ihm weitere Männer zu senden. Gwendivar hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen.
Und sie vermisste ihn, diesen Gemahl, den sie erst jetzt wahrhaft kennen lernte. Sie griff nach einem Stück Pergament und begann nach einer kurzen Weile zu schreiben.
»Sei gegrüßt, mein König und Gemahl. Das Wetter hier ist heiß und schön, und wir hoffen auf eine gute Ernte. Ich kann dir jetzt einen Teil des Vorrats der letztjährigen Ernte sowie die Steuern aus Dumnonia schicken. Gwalchmai hat seine Gattin nach Camelot gebracht. Sie ist eine kluge Frau und sehr belesen in lateinischer Dichtkunst, ganz und gar nicht die Wahl, die man sich von Gwalchmai erwartet hätte. Aber er ist glücklich mit ihr – der wilde Junge ist letztlich doch erwachsen geworden. Die Neuigkeiten aus dem Norden sind weniger gut. Morgause schreibt, dass deine Mutter kränkelt. Sobald wir mehr erfahren, lasse ich es dich wissen…«
Gwendivar hielt inne und rief sich den See ins Gedächtnis, der gleich einem Juwel im Schoß der Berge ruhte, besann sich der Stille, die man stets mit einem unheiligen Laut zu durchbrechen fürchtete. Nur einmal war sie dort gewesen, doch die Erinnerung an den Ort war noch immer lebendig. Und doch verspürte sie kein Verlangen, dorthin zurückzukehren. Sie war ein Kind des Südens, und ihr Herz war im Tal von Avalon zu Hause.
Merlin bewegte sich gleich einem Hirsch durch den Wald; kaum ein Blatt regte sich, wo er vorbeikam. Doch wenn er den Fluss erreichte, gebarte er sich wie ein Otter, tauchte mühelos durchs Wasser. Bei Nacht trieben ihn die Sinne eines Wolfes weiter. Wenn er aber feststellte, dass er doch irgendwann müde wurde, sank er zwischen den Wurzeln einer uralten Eiche nieder und verwandelte sich in einen Baum.
Während er im ersten Licht des Morgens wanderte, hielt er sich einen Moment lang für einen Vogel. Der Schmerz der Glieder, die aufgrund der nächtlichen Untätigkeit steif geworden waren, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf seinen Körper. Er reckte sich und betrachtete blinzelnd einen sehnigen menschlichen Arm, überzogen mit borstigem, silbergesprenkeltem Haar. Aus gespreizten Zweigen wurden Finger, die nach dem glatten, von Runen
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