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Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel

Titel: Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana L. Paxson
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gezeichneten Holz des Speeres griffen, den er während all seiner Verwandlungen bei sich behalten hatte.
    Mit jener Berührung kehrte sein volles Bewusstsein wieder zurück, und er besann sich seiner Menschlichkeit. Einfacher wäre es gewesen, ein Vogel zu bleiben, dachte er ein wenig verbittert. Ein Vogel dachte nicht weiter als bis zum nächsten Insekt, zum nächsten Lied. Sogar die trägen Gedanken eines Baumes, der sich langsam gen Himmel streckte, wären noch besser gewesen. Ein Mensch vermochte sich an die Botschaft zu erinnern, die ihn auf diese Reise getrieben hatte; ein Mensch konnte weinen, wenn er sich eine Welt ohne Igraine vorzustellen versuchte.
    Er betrachtete die bewaldeten Anhöhen über ihm und wusste, dass der Instinkt, der ihn leitete, ihn tief in die Hügel des Seenlandes geführt hatte, wo einst die Brigantes geherrscht hatten. In ein paar Stunden konnte er die Insel der Maiden erreichen. Tierische Sinne zerrten an seinem Bewusstsein – er roch wilde Zwiebel am Hang und Raupen unter einem umgestürzten Baumstamm. Essen und Wasser brauchte er, doch es war notwendig, dass er diese Reise als Mensch beendete.
    Als Merlin an den See gelangte, war es beinahe Mittag. Das Wasser lag ruhig und silberfarben unter dem blauen Gewölbe des Himmels; sogar die Bäume hielten mit reglosen Blättern Wache. Menschlicher Verstand sagte ihm, dass eine solche Stille oft Stürme ankündigte, doch ein tieferer Instinkt raunte ihm zu, dass die Welt den Atem anhielt und darauf wartete, dass die Herrin vom See den ihren aushauchte. Nachdem er in das kleine, ans Ufer gezogene Boot gestiegen war, stieß er sich behutsam ab, als könnten schon die sanften Wellen seiner Überfahrt jenes zerbrechliche Gleichgewicht zerstören.
     
    Die Priesterinnen hatten Igraines Bett im Garten unter einem Schirm aus Korbgeflecht aufgestellt. Merlin hätte sie bereits für tot gehalten, hätte er nicht gesehen, dass sich das Leinentuch bewegte, das ihr als Decke diente. Neun Priesterinnen standen rings um sie und sangen leise. Als er sich näherte, erhob sich die Frau, die am Kopfende des Bettes saß, und er erkannte, dass es sich um Morgause handelte. Das klare Licht, das durch das Schirmgeflecht brach, zeigte deutlich die Falten, die Leidenschaft und Hochmut in ihr Antlitz gegraben hatten, doch es enthüllte auch die dauerhafte Stärke ihrer Knochen. Ihm war nie aufgefallen, wie sehr sie, ungeachtet der äußerlichen Unterschiede wie der Haarfarbe und der noch tiefergreifenden geistigen Unterschiede, ihrer Mutter ähnelte.
    Igraine hatte die Augen geschlossen; ihr Atem ging angestrengt und langsam. Das silbrige Haar verteilte sich strahlenförmig über das Kissen, von liebevollen Händen gekämmt. Unter der dünnen Haut konnte er den Schädel erkennen.
    »Wie lange – «
    »- sie schon so da liegt?«, beendete Morgause den Satz. »Vor zwei Tagen wurde sie plötzlich von Schwäche befallen.«
    »Habt ihr die Macht des Kessels beschworen?«
    Mit gerunzelter Stirn schüttelte Morgause den Kopf. »Sie hat es uns verboten.«
    Merlin seufzte. Er hätte damit rechnen müssen, denn die Macht des Kessels sollte den Lauf der Natur erfüllen und nicht verhindern.
    Morgause ergriff wieder das Wort: »Noch gestern hat sie Brühe gegessen, aber seit letzter Nacht hat sie sich nicht mehr gerührt. Sie entfernt sich von uns, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.«
    »Hast du seither geschlafen?« Als sie den Kopf schüttelte, berührte er ihre Hand. »Geh, ruh dich aus, und lass mich eine Weile über sie wachen. Ich rufe dich, sobald eine Veränderung eintritt.«
    Es war ein guter Rat, obwohl Merlin nicht wusste, ob er ihn um ihretwillen oder um seinetwillen erteilt hatte. Ihr Zorn und ihr Bedürfnis nach Ruhe zerrten an seiner mühevoll erlangten Fassung.
    Nachdem sie gegangen war, lehnte er den Speer gegen den Pfosten, setzte sich auf ihren Platz und ergriff Igraines Hand. Sie fühlte sich kühl und trocken an; nur wenn er sie drückte, spürte er den Puls darin. Merlin schloss die Augen, ließ den Atem langsamer werden, passte seine Lebenskraft der ihren an.
    »Igraine… meine Fürstin… Igraine…« Sein Bewusstsein erweiterte sich; er spürte, wie er den Körper verließ, nach jenem Ort suchte, an dem ihr Geist weilte, den einzig ein silbriges Band an den Leib fesselte, ein Band, das mit jedem Schlag ihres Herzens dünner wurde.
    »Merlin, mein alter Freund – « Er fühlte Igraine als helle Geistgestalt, die sich ihm zuwandte. »Sag

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