Brockmann Suzanne
Wildfang mit unordentlichem roten Strubbelkopf und ständig aufgeschlagenen Knien in zerfledderten, abgeschnittenen Jeans. Schon damals arbeitete sie freiwillig in einer Art Umweltschutzverein und beteiligte sich an jeder Müllsammelaktion in der Nachbarschaft.
Einmal mussten Wes und er sie ins Krankenhaus fahren, weil eine Verletzung genäht werden musste und eine Tetanusspritze fällig war. Während einer Müllsammeltour in einer besonders scheußlichen Gegend war sie in einen rostigen Nagel getreten, der glatt durch die dünne Sohle ihres Schuhs gedrungen war und sich in ihren Fuß gebohrt hatte.
Es tat höllisch weh, und sie weinte. Ganz ähnlich wie am Abend zuvor. Und sie wischte sich immer schnell die Tränen ab, in der Hoffnung, Wes und er würden nicht bemerken, dass sie weinte.
Es war ein schlechtes Jahr für sie, auch für Wes. In jenem Jahr begleitete Bobby ihn nach Hause, weil eine Beerdigung anstand. Ethan, ein Bruder von Wes und Colleen, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Im Wagen eines Klassenkameraden, der so betrunken war, dass man ihm eine Alkoholvergiftung diagnostizierte.
Herr im Himmel, war das schmerzlich gewesen! Wes stand noch Monate danach unter Schock. Colleen schrieb Bobby damals, dass sie eine Selbsthilfegruppe für trauernde Angehörige besuchte, die zu „Mütter gegen Trunkenheit am Steuer“ gehörte. Sie bat Bobby, etwas Ähnliches für Wes ausfindig zu machen, denn er hatte von allen seinen Geschwistern Ethan am nächsten gestanden und litt am stärksten unter dem Verlust.
Bobby versuchte es, aber Wes verweigerte sich. Stattdessen stürzte er sich ins Training und lernte schließlich wieder, zu lachen.
„Halt an“, sagte Colleen jetzt.
„Das geht hier nicht. Hier ist kein Parkplatz frei.“
„Halt einfach auf der Straße an!“, befahl sie. „Ich steige aus, du bleibst beim Wagen.“
„Kommt nicht infrage!“, gab er barsch zurück und schickte eines von Wes’ bevorzugten Schimpfwörtern hinterher.
Sie musterte ihn verblüfft. Nie zuvor hatte er in ihrer Gegenwart solche Wörter benutzt.
Ihr Blick war nicht vorwurfsvoll, nur überrascht. Trotzdem fühlte er sich wie ein Dreckskerl.
„Entschuldige bitte“, sagte er steif. Er war immer noch wütend auf sie, weil sie ihn geküsst hatte, nachdem er sie ausdrücklich darum gebeten, nein, angefleht hatte, das nicht zu tun. Und er war wütend auf sich selbst, weil er ihren Kuss erwidert hatte. „Wenn du glaubst, ich bleibe hier sitzen und schaue zu, wie du dich einem wütenden Mob entgegenstellst …“
„Das ist kein wütender Mob“, widersprach sie. „Ich sehe John Morrison nirgendwo, obwohl ich davon ausgehe, dass er dahintersteckt.“
Er musste an der Ampel anhalten, und sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus.
„Colleen!“ Ungläubigkeit und etwas anderes, etwas Dunkleres, das in seinem Magen rumorte und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, brachten seine Stimme zum Überschnappen. Etliche der Demonstranten trugen Schilder, die an Dachlatten genagelt waren. Damit konnte man jemandem den Schädel einschlagen.
Sie hörte, wie er ihr nachrief. Er wusste, dass sie es gehört hatte, aber sie winkte ihm nur kurz zu, während sie rasch die Straße überquerte.
Angst. Nackte kalte Angst hatte ihn gepackt.
Er hatte gelernt, mit seinen Ängsten umzugehen. Der Angst vor Fallschirmabsprüngen, vorm Schwimmen in Gewässern, in denen sich Haie tummelten, vor der Arbeit mit Sprengstoffen, die einen Menschen zerfetzen konnten, wenn er einen kleinen Fehler machte. Diese Ängste hatte er in den Griff bekommen, weil er wusste, dass er so gut ausgebildet und vorbereitet war wie nur irgend möglich. Er konnte mit allem umgehen, was ihm begegnete. Mit allem, worüber er die Kontrolle hatte. Wenn es um Dinge ging, die er nicht unter Kontrolle hatte, begegnete er ihnen mit einer dem Zen-Buddhismus entlehnten Einstellung: Er würde sein Leben auskosten, und wenn es Zeit war zu gehen, wenn ihm kein Ausweg mehr blieb, dann würde er eben gehen. Ohne Reue, ohne Gewissensbisse, ohne Panik.
Aber mitansehen zu müssen, wie Colleen sich in Gefahr begab, war etwas ganz anderes. Und es kam sehr wohl Panik in ihm auf.
Eine Lücke tat sich im Verkehr auf. Bobby gab Gas, überfuhr die rote Ampel und stellte den Transporter in zweiter Reihe neben den vor der Aids-Hilfe geparkten Wagen ab. Dann schaltete er die Warnblinkanlage ein, stieg aus und rannte Colleen nach, um sie aufzuhalten, bevor sie die Demonstranten
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