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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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grausame Tat war also nicht nur dumm, sondern auch widersinnig, denn wenn man dem Anderen seine Reittiere umbrachte, um ihm klarzumachen, dass er weggehen solle, raubte man ihm damit das einzige Transportmittel. Aber Mörder, ob sie nun Tiere oder Menschen töten, denken nur selten nach, bevor sie handeln.

37
    Ich habe keinen Esel und kein Pferd getötet.
    Ich habe etwas Schlimmeres getan.
    Ja, etwas viel Schlimmeres.
    In meinen Nächten zieht es mich nicht nur an den Rand des Kazerskwir .
    Ich sehe auch den Waggon wieder.
    Ich erlebe die sechs Tage im Waggon noch einmal.
    Und ich erlebe die sechs Nächte noch einmal und die fünfte dieser Nächte. Sie war ein Albtraum, der nie verblassen wird.
    Im Bahnhof von S. hatte man uns erst, wie ich schon erzählt habe, in zwei Kolonnen aufgeteilt und dann in die Waggons getrieben. Wir alle waren Fremde . Manche waren reich und manche arm. Manche kamen aus der Stadt und andere vom Land. Aber diese Unterschiede sollten schnell unwichtig werden. Man stieß uns in die großen Waggons ohne Fenster, wo auf dem Holzboden ein wenig schmutziges Stroh lag. Normalerweise hätten etwa dreißig Männer, wenn auch eng aneinandergedrängt, im Waggon sitzen können, aber die Aufseher pferchten mehr als die doppelte Anzahl hinein. Es wurde geschrien, geklagt, protestiert, geweint. Ein alter Mann stürzte im Gedränge. Ein paar versuchten, ihm aufzuhelfen, aber die Aufseher trieben immer mehr Gefangene in den Waggon, die Menschenmenge bewegte sich ruckartig, und der alte Mann wurde von den Männern totgetrampelt, die ihm hatten helfen wollen.
    Er war der erste Tote im Waggon.
    Wenige Zeit später, als die menschliche Fracht verladen war, schoben die Aufseher die schwere Eisentür zu und schlugen den Riegel vor. Es wurde schlagartig dunkel. Nur noch durch einige feine Risse drang Tageslicht hinein. Der Zug ruckte an und presste uns noch enger zusammen. Die Reise begann.
    Dort lernte ich den Studenten Kelmar kennen. Der Zufall hatte dafür gesorgt, dass wir nebeneinandersaßen. Kelmar saß rechts von mir, und links von mir kauerte eine Frau mit ihrem wenige Monate alten Kind, das sie fest in ihren Armen hielt. Wir nahmen alles wahr von den Menschen neben uns, die Wärme, den Geruch der Haut, der Haare, den Schweiß in den Kleidern. Man konnte sich nicht bewegen, ohne dass auch der andere sich bewegen musste. Man konnte nicht aufstehen und nicht umhergehen. Das Rütteln des Waggons warf uns durcheinander. Anfangs sprachen die Menschen noch leise miteinander, später schwiegen sie. Manche weinten, aber nur wenige. Manchmal hörte man eine Kinderstimme, die ein Lied sang, aber meistens herrschte Stille. Die Achsen quietschten, und die Eisenräder ratterten in den Schienen. So rollte der Waggon, manchmal stundenlang. Manchmal stand er auch still, wir wussten nicht wo und warum. In den sechs Tagen wurde die schwere Tür nur einmal einen Spalt geöffnet, und zwar am Morgen des fünften Tages, nicht weil man uns hinauslassen wollte, sondern weil man uns mit ein paar Eimern lauwarmem Wasser begoss.
    Anders als manche andere, die etwas vorausschauender gewesen waren, hatten Kelmar und ich nichts zu essen und zu trinken mitgenommen. Aber merkwürdigerweise litten wir, zumindest in den ersten Tagen, nicht am Hunger. Wir unterhielten uns leise. Wir sprachen über die Hauptstadt, über Bücher, die wir gelesen hatten, über Freunde, die wir auf der Universität gehabt hatten, und über Cafés, an denen ich mit Ulli Rätte stets vorbeigegangen war und wo Kelmar, der aus einer vermögenden Familie stammte, sich mit seinen Freunden getroffen hatte, um Kräuterschnaps, Bier und sahnige heiße Schokolade zu trinken. Kelmar erzählte mir von seiner Familie, von seinem Vater, der Pelzhändler war, seiner Mutter, die in dem großen Haus am Fluss ihre Tage mit Klavierspielen verbrachte, von seinen sechs Schwestern, die zwischen zehn und achtzehn Jahre alt waren. Er hat mir auch ihre Namen gesagt, aber ich habe sie vergessen. Ich habe ihm von Emélia und Fédorine erzählt, von unserem Dorf und der Landschaft ringsum, von den Quellen, Wäldern, Blumen und Tieren.
    Drei Tage lang stillten wir in dem dunklen, stinkenden, heißen Waggon Hunger und Durst, indem wir uns unterhielten. Manchmal konnten wir nachts ein wenig schlafen, und wenn wir nicht schlafen konnten, sprachen wir weiter. Das Kind, das die junge Frau neben uns eng an sich drückte, gab keinen Laut von sich. Es bekam die Brust und quengelte nie. Der

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