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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Säugling nahm die Brustwarze in den Mund, und ich sah, wie seine mageren Wangen sich nach innen zogen, aber der Busen war schlaff und leer, und der Säugling wurde das vergebliche Saugen schnell müde. Dann gab seine Mutter ihm etwas Wasser in den Mund, Wasser aus einer strohgepolsterten Glasflasche. Auch andere Leute im Waggon besaßen solche Schätze, sie hatten ein Stück Brot, Käse, trockenen Kuchen, Wurst oder Wasser und bewahrten diese Dinge wachsam unter ihren Kleidern auf.
    Anfangs war ich sehr durstig. Mein Mund brannte. Ich hatte das Gefühl, dass meine Zunge riesenhaft anschwoll, als wäre sie bald zu groß für meinen Mund, und austrocknete wie ein alter Baumstumpf. Ich hatte keinen Speichel mehr. Meine Zähne waren wie glühende Kohlen, die sich in mein Zahnfleisch bohrten. Ich hatte das Gefühl, als fügte ich mir blutige Verletzungen zu, aber wenn ich mit den Fingern meine Lippen befühlte, merkte ich, dass alles nur Einbildung war. Sonderbarerweise verging der Durst nach und nach. Ich fühlte mich immer schwächer, aber ich hatte keinen Durst mehr und auch kaum Hunger. Wir sprachen immer weiter, Kelmar und ich.
    Die junge Frau beachtete uns nicht. Aber bestimmt hörte und spürte sie uns, wie auch ich mal ihre Ferse, mal ihre Schulter, manchmal ihren Kopf spürte. Sie richtete nie das Wort an uns. Sie hielt ihr Kind fest im Arm und drückte die Korbflasche an sich, die genauso kostbar war wie das Kind, die Flasche mit dem Wasser, das sie gewissenhaft für sich und den Säugling einteilte.
    Wir alle verloren jegliches Zeitgefühl, wir waren vollkommen orientierungslos. Wohin fuhr der Zug? Wohin rollte er so quälend langsam? Was erwartete uns am Ziel? Wo waren wir? Waren die Länder, die wir durchquerten, überhaupt auf Landkarten verzeichnet?
    Heute weiß ich, dass sie auf keiner Karte verzeichnet waren. Das Land, in das wir gebracht wurden, entstand gerade erst. Unser Waggon und die vielen anderen Züge mit den Frauen, Kindern und Männern, halb erstickt, aneinandergepresst, manchmal die Toten neben den Lebenden, verzehrt von Durst, Fieber und Hunger – unser Waggon und die vielen anderen Züge fuhren in ein neues Land, das Land der Unmenschlichkeit, der Verneinung jeglicher Menschlichkeit, ein Land, dessen Mittelpunkt das Lager war. Das war unsere Reise, eine Reise, die von anderen mit äußerster Entschlossenheit und Effizienz geplant worden war, eine Reise, die dem Zufall keine Chance ließ.
    Wir zählten die Stunden nicht mehr, die Nächte und die Sonnenaufgänge, die wir zwischen den Holzplanken erkennen konnten. Anfangs hatten das Zählen der Tage und der Wille, sich zu orientieren, uns noch geholfen, wir hatten uns überlegt, ob wir nun eher nach Osten oder eher nach Süden oder nach Norden fuhren. Und dann hatten wir alles aufgegeben, was uns doch nur quälte. Wir wussten nichts mehr. Ich glaube nicht einmal, dass wir noch hofften, irgendwo anzukommen. Auch diesen Wunsch spürten wir nicht mehr.
    Erst viel später, als ich darüber nachdachte, als ich versuchte, mich an die schreckliche Reise genau zu erinnern, habe ich rekonstruiert, dass sechs Tage und sechs Nächte vergangen sind. Und seitdem habe ich oft gedacht, dass nicht ohne Grund ausgerechnet eine Woche verstrichen war. Unsere Henker waren gläubig. Sie wussten, dass Gott sechs Tage gebraucht hatte, um die Welt zu schaffen, so steht es jedenfalls in der Heiligen Schrift. Wahrscheinlich nahmen sie an, sie bräuchten ebenfalls sechs Tage für die Zerstörung dieser Welt. Für die Zerstörung der Welt in uns. Und während Er am siebten Tag geruht hatte, war dies für uns der Tag, an dem die Henker die Türen der Waggons öffneten und uns mit Stockschlägen hinaustrieben. Es war der Tag unseres Endes.
    Aber für Kelmar und mich gab es auch noch den fünften Tag. Morgens öffneten sich die Türen einen Spalt, und wir wurden mit Wasser begossen. Warm und schlammig lief es an unseren verdreckten, verschwitzten, toten Leibern herunter, aber es war keine Erleichterung. Es war eine Qual. Denn das Wasser kühlte nicht, sondern erinnerte uns nur daran, dass wir einmal, in einem früheren Leben, unseren Durst mit köstlichem, frischem Wasser gelöscht hatten.
    Der Durst kehrte zurück. Und vielleicht weil wir schon fast tot waren und unser ermatteter Geist schon halb erloschen war, wurde der Durst unerträglich. Wir wurden schier wahnsinnig. Aber man soll mich nicht missverstehen: Ich suche keine Entschuldigung für unsere Tat.
    Die junge Frau

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