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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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und das Kind neben uns lebten noch. Sie atmeten zwar nur noch schwach, aber sie atmeten. Ihre Korbflasche mit Wasser hatte sie am Leben erhalten, und in dieser Korbflasche, die Kelmar und mir wie eine nie zu versiegende Quelle erschien, war noch etwas Wasser übrig. Wir hörten es gegen die Glaswand schwappen, jedes Mal, wenn der Zug ruckelte. Es war eine schöne, quälende Melodie, wie ein plätscherndes Bächlein, eine sprudelnde Quelle, ein gluckernder Brunnen. Die erschöpfte Frau machte immer seltener die Augen auf und fiel immer wieder in einen schweren Schlaf, aus dem sie einen Augenblick später wieder aufschreckte. In wenigen Tagen war ihr Gesicht um zehn Jahre gealtert, genauso wie das Gesicht ihres Säuglings, der immer mehr wie ein merkwürdiger kleiner Greis aussah.
    Kelmar und ich sprachen schon lange nicht mehr. Wir gaben uns den Kapriolen unseres Gehirns hin, das kaum noch zwischen Erinnerung und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Es stank nach ungewaschenen Körpern, Exkrementen, säuerlichen Ausdünstungen, und wenn der Zug sein Tempo verlangsamte, drangen Abertausende Fliegen in den Waggon ein. Ließen freiwillig ihr friedliches Land hinter sich, wo das Gras grün und die Erde still ist, drückten sich zwischen den Planken hindurch, stürzten sich auf uns, und im Todeskampf hörten wir das Surren ihrer Flügel.
    Wir haben es wohl gleichzeitig gesehen und starrten uns an. Alles beschlossen wir mit diesem einen Blick. Wieder einmal war die junge Frau eingeschlafen, aber anders als sonst hatten ihre entkräfteten Arme den Griff um Kind und Korbflasche gelockert. Das Kind lag, weil es so leicht war, immer noch dicht neben dem Körper der Mutter, aber die Korbflasche nicht: Sie war neben mein linkes Bein gerollt. Wir verstanden uns ohne Worte, Kelmar und ich. Ich weiß nicht, ob wir nachdachten. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt noch fähig dazu waren. Ich weiß nicht, was es war, aber irgendetwas tief in uns traf die Entscheidung. Gleichzeitig legten sich unsere Hände um die Flasche. Es gab kein Zögern. Kelmar und ich tauschten noch einen letzten Blick, und dann tranken wir abwechselnd, wir tranken das warme Wasser in der Glasflasche, tranken es bis auf den letzten Schluck leer, gierig, mit geschlossenen Augen, wie wir bisher noch nie getrunken hatten. Und wir wussten genau, dass diese Flüssigkeit, die uns die Kehlen hinunterlief, das Leben war, ja, das schiere Leben, und es schmeckte köstlich und faulig, frisch und abgestanden, glücklich und traurig, es hatte einen Geschmack, an den ich mich bis zu meiner letzten Stunde mit Grauen erinnern werde.
    Gegen Abend starb die Frau. Aber vorher hatte sie ununterbrochen geschrien, und ihr Kind, dieses kleine, runzlige, blasse Wesen mit Sorgenfalten auf der Stirn und den geschwollenen Lidern, lebte nur einige Stunden länger. Vor ihrem Tod schlug sie auf alle, die sie erreichen konnte, mit ihren Fäusten ein und beschimpfte uns als Diebe und Mörder. Ihre Fäuste waren so kraftlos und klein, dass mir die Schläge, die auch mich trafen, wie Liebkosungen vorkamen. Ich tat so, als schliefe ich. Kelmar auch. Diese paar Schluck Wasser, die wir getrunken hatten, hatten uns Kraft und Klarheit zurückgegeben, genug jedenfalls, dass wir unsere Tat jetzt bedauern und uns selbst verabscheuen konnten und nicht mehr wagten, die Augen zu öffnen, um die Frau und einander anzusehen. Wahrscheinlich wären die junge Frau und das Kind in jedem Fall gestorben, aber dieser logische Gedanke machte unsere Tat nicht weniger schändlich. Unsere Tat war der Triumph unserer Henker. Das wussten wir, und Kelmar erkannte es vielleicht in jenem Augenblick noch klarer als ich, denn er hat sich wenig später entschieden, nicht mehr weiterzugehen. Er entschied sich für den Tod. Er hat sich selbst bestraft.
    Ich habe mich für das Leben entschieden, dieses Leben, das meine Strafe ist. So sehe ich es jedenfalls. Meine Strafe sind die Leiden, die ich später erdulden musste. Meine Strafe sind Hund Brodeck und Emélias Schweigen, das ich manchmal als den schlimmsten aller Vorwürfe empfinde. Meine Strafe sind die allnächtlichen Albträume und vor allem das nie weichende Gefühl, in einem gestohlenen Körper zu leben, zu leben nur dank ein paar Schluck gestohlenen Wassers.

38
    Als ich gestern Abend den Schuppen verließ, war ich schweißgebadet, obwohl Kälte, Nebel und Graufrost – jener nicht weiße, sondern gräuliche Raureif, den es nur bei uns gibt – das ganze Dorf fest im Griff

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