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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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die mich verwundert hat, denn seine Stimme klang plötzlich ganz verändert. Und obwohl ihn doch sonst kaum etwas beeindrucken kann, habe ich ein bisschen Angst herausgehört.
    ‹Wir wissen ja noch nicht einmal Ihren Namen …›
    ‹Ist das jetzt noch wichtig? Ein Name ist Schall und Rauch, ich könnte niemand sein oder jedermann›, antwortete der Andere .
    ‹Eins würde ich gerne noch erfahren›, sagte Orschwir zuletzt, ‹die Frage beschäftigt mich schon lange.›
    ‹Nur zu, Herr Bürgermeister.›
    ‹Sind Sie von jemandem geschickt worden?›
    Der Andere hat gelacht, du kennst ja sein leises Lachen, das sich anhört wie von einer Frau. Und nach einer langen Pause hat er endlich gesagt:
    ‹Es kommt darauf an, was Sie glauben, Herr Bürgermeister, nur darauf kommt es an. Urteilen Sie selbst …›
    Er hat noch einmal gelacht, und bei diesem Lachen, das schwöre ich dir, Brodeck, lief es mir kalt den Rücken runter.»
    Schloss war seine Geschichte losgeworden. Erschöpft sah er aus, aber auch erleichtert, weil er alles erzählt hatte. Ich holte eine gute Flasche Schnaps und zwei Gläser.
    «Glaubst du mir denn auch, Brodeck?», fragte er ängstlich, während ich die beiden Gläser füllte.
    «Warum sollte ich dir nicht glauben, Schloss?»
    Er schlug eilig die Augen nieder und kippte den Schnaps hinunter.
    Ob Schloss mir nun die Wahrheit erzählt hat oder nicht, ob das Gespräch, von dem er mir berichtet hat, wirklich stattgefunden hat oder nicht, ob genau in den Worten, die ich hier niederschreibe oder in anderen Formulierungen, mehr oder weniger ähnlichen – eins steht zweifelsfrei fest: Der Andere ist nicht abgereist. Und fest steht auch, dass fünf Tage später, als der Regen aufhörte, die Sonne wieder am Himmel erschien und die Leute sich wieder aus ihren Häusern trauten, die letzten Worte des Gesprächs zwischen dem Bürgermeister und dem Anderen in aller Munde waren. Die Stimmung war gespannt, ein Funken würde den trockenen Zunder in Flammen aufgehen lassen! Hätte unser Pfarrer noch alle Sinne beisammengehabt, dann hätte er mit einigen wohlgewählten Worten, etwas gesundem Menschenverstand und eimerweise Weihwasser die Flammen ersticken können. Aber Peiper machte mit seinem weinseligen Gelalle alles noch schlimmer, als er am Sonntag darauf eine verworrene Geschichte vom Antichrist und dem Jüngsten Gericht zum Besten gab. Ich weiß nicht mehr, wann das Wort Teufel fiel, ob der Pfarrer selbst oder ein anderer es aussprach, aber die Leute griffen es begierig auf. Der Andere hatte seinen Namen nicht preisgeben wollen, aber jetzt hatte das Dorf einen für ihn gefunden. Ein berühmter Name, seit Jahrhunderten im Umlauf und doch immer neu. Ein wirkmächtiger, endgültiger Name.
    Dummheit und Angst passen gut zusammen. Das eine verstärkt das andere, und Peipers Predigt und die Worte des Anderen wirkten in den Gemütern der Menschen!
    Der Andere aber ahnte noch nichts davon. Bis zum Dienstag, dem 3. September, machte er weiter seine Spaziergänge und wunderte sich anscheinend auch nicht, dass sein Gruß nicht mehr erwidert wurde und viele Leute sich bekreuzigten, wenn sie ihm begegneten. Die Kinder liefen ihm nicht mehr hinterher. Man hatte ihnen eingebläut, sich von dem Anderen fernzuhalten, und sie nahmen Reißaus, sobald sie ihn erblickten. Einmal schmissen die frechsten Gören ihm ein paar Steine hinterher.
    Jeden Morgen ging er, wie gewohnt, in den Stall und besuchte sein Pferd und seinen Esel. Aber obwohl er Vater Solzner für seine Dienste im Voraus bezahlt hatte, musste er feststellen, dass seine Tiere vernachlässigt wurden. Tränken und Futterkrippen blieben leer, aber er beschwerte sich nicht, sondern legte selbst Hand an, rieb die Tiere mit Stroh ab, striegelte sie, flüsterte ihnen etwas Freundliches ins Ohr. Mademoiselle Julie zeigte ihre gelben Zähne, und Monsieur Socrate schüttelte sich von vorne bis hinten und schlug mit seinem kurzen Schweif. Diese Szene habe ich am Montagabend selbst beobachtet, als ich nach einem Tag in den Wäldern nach Hause zurückkehrte. Der Andere sah mich nicht, er stand mit dem Rücken zu mir. Fast wäre ich in den Stall gegangen, hätte mich geräuspert und etwas gesagt, aber ich tat es nicht. Ich wartete auf der Schwelle. Die Tiere jedoch hatten mich bemerkt und sahen mich mit ihren großen, sanften Augen an. Ich blieb eine Weile stehen, weil ich hoffte, dass eines von ihnen leise wiehern oder schnauben würde, damit der Andere meine Anwesenheit

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