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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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bemerkte, aber nichts geschah. Gar nichts. Der Andere streichelte sie, er stand mit dem Rücken zu mir. Da bin ich weitergegangen.

36
    Tags darauf erschien Diodème bei uns zu Hause. Japsend stand er vor mir, das Hemd hing ihm aus der Hose, die er linksherum anhatte, und sein Haar war struppig.
    «Komm mit! Mach schnell!»
    Ich schnitzte gerade Holzschuhe für Poupchette aus einem Stück Schwarztanne. Es war elf Uhr morgens.
    «So komm doch endlich, sieh dir an, was sie getan haben.»
    Er schien so verzweifelt, dass jeder Einwand zwecklos war. Ich legte meinen Hohlmeißel weg und befreite mich von den frischen Holzspänen, die auf meinen Schoß gefallen waren, wie Federn, wenn man eine Gans rupft. Dann folgte ich ihm.
    Unterwegs sprach Diodème kein Wort. Er rannte, als hinge das Geschick der Welt davon ab, und ich kam nur mühsam seinen langen Schritten nach. Mir fiel auf, dass er zur Biegung des Staubi unterwegs war, zu der Stelle, wo der Fluss einen Bogen um die Gemüsefelder von Sebastian Uränheim beschreibt, dem größten Produzenten von Kohl, Rüben und Lauch in unserem Tal – aber was Diodème da wollte, wusste ich immer noch nicht. Ich verstand, als wir um die letzte Hausecke kamen. Dort am Flussufer war eine große Menschenansammlung. Kinder, Frauen und Männer, es müssen fast hundert gewesen sein, standen mit dem Rücken zu uns und schauten zum Wasser. Mein Herz setzte kurz aus, und ich dachte unsinnigerweise an Poupchette und Emélia, unsinnigerweise deshalb, weil ich wusste, dass sie zu Hause waren. Sie waren doch zu Hause und konnten von dem Unglück, das dort geschehen war, nicht betroffen sein. Ich kam wieder zur Vernunft und ging weiter.
    Die große Menschenmenge stand schweigend da, keiner sagte ein Wort, und die Gesichter der Leute, zwischen denen ich mich durchdrängte, waren vollkommen ausdruckslos. Es war ein sonderbares Bild: die ausdruckslosen Gesichter, die Augen, die starrten, ohne zu blinzeln, die fest geschlossenen Münder. Ich rempelte aus Versehen den einen oder anderen an, sie ließen mich vorbei und nahmen sofort, wie Stehaufmännchen, ihre alte Haltung wieder ein.
    Ich war nur noch etwa vier Meter vom Ufer entfernt, als ich das Klagen hörte. Es klang wie ein trauriges, eintöniges Lied ohne Worte, es drang in mein Gemüt und ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, obwohl es an jenem Morgen doch weiß Gott warm war, denn nach dem großen Waschtag, den Wolkenbrüchen und den Gewittern hatte die Sonne wieder die Oberhand gewonnen. Fast bis nach vorne hatte ich mich durch die Menschenmenge gedrängelt, vor mir standen nur noch der älteste der Dörfer-Brüder und sein kleiner Bruder Schmutti, der schwachsinnig ist und auf zwei etwas schiefen Schultern einen riesigen Kopf trägt, dick wie ein Kürbis und hohl wie ein morscher Baumstumpf. Vorsichtig schob ich die beiden zur Seite, und dann sah ich es.
    Die Leute waren an der Stelle zusammengekommen, wo der Staubi am tiefsten, etwa drei Meter tief, ist. Aber das unterschätzt man, denn dort ist das Wasser so klar und sauber, dass man den Grund deutlich sehen kann, als wäre er nur eine Armlänge entfernt.
    Ich habe in meinem Leben schon viele weinende Männer und viele Tränen gesehen. Ich habe gesehen, wie Menschen der Schädel zerquetscht wurde, wie Nüsse, die man mit einem Stein zerschlägt, ich habe Menschen gesehen, die wie Abfall behandelt wurden. Im Lager war dieser Anblick alltäglich. Niemals aber werde ich das Gesicht des Anderen an jenem Septembermorgen beim Ufer des Staubi vergessen, das schmerzverzerrte Gesicht eines Menschen, der alles verloren hat, dem alles genommen wurde, der nichts mehr besitzt und nichts mehr ist.
    Er weinte nicht, er regte sich nicht. Ich hörte seine Stimme, seine ununterbrochene Klage, wie ein Trauergesang, der diesseits der Worte und Sprache aus dem Innersten des Körpers und der Seele drang: die Stimme des Schmerzes. Er zitterte, und dann blickte er abwechselnd zu uns in die Menge herüber und dann wieder zum Fluss, wieder zur Menge und wieder zum Fluss. Er trug seinen kostbaren Brokatmorgenmantel, der aus einer anderen Welt zu kommen schien und dessen matschige, nasse Schöße an seinen kurzen Beinen klebten.
    Ich habe nicht sofort verstanden, warum der Andere klagte und warum er sich benahm, als wäre er irre geworden. Ich starrte in sein Gesicht, auf den halboffenen Mund und auf den prächtigen Morgenmantel und bemerkte daher erst etwas später, dass er in seiner rechten Hand etwas hielt.

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