Brodecks Bericht (German Edition)
hatten. Nur etwa zehn Meter trennten mich von Fédorine, die in der Küche saß, von Poupchette und Emélia in ihren Betten, aber es kam mir vor, als könnte ich diese Entfernung nicht überwinden. Bei Göbbler brannte noch Licht. Vielleicht bespitzelte er mich? Vielleicht hatte er sich zum Schuppen geschlichen und das unregelmäßige Klappern der Schreibmaschine belauscht? Es war mir vollkommen gleichgültig. Ich war auf meinem Weg weitergegangen. Bis in den Waggon hinein. Ich habe alles erzählt.
Bevor ich in unserem Zimmer ins warme Bett schlüpfte, habe ich die Seiten wieder in das Leinentuch gewickelt und heute, wie an jedem Morgen, das Tuch mit meinem Bekenntnis um Emélias Bauch gebunden. Das tue ich jetzt schon seit vielen Wochen. Emélia lässt sich alles gefallen und achtet nicht darauf, aber heute Morgen, als ich die Seiten festgebunden hatte, spürte ich, wie sie ihre Hand auf meine legte und sie drückte. Es war nur ganz kurz, und ich habe auch nichts sehen können, denn im Zimmer war es noch dunkel. Aber ich bin mir sicher, dass es keine Einbildung war. Vielleicht war es keine Absicht, aber vielleicht wollte sie mir auch ein erstes Zeichen ihrer Zuneigung geben.
Mittag ist gerade vorbei an diesem farblosen Tag. Es ist nicht richtig hell geworden. Das trübe Tageslicht schwindet schon wieder, und immer noch liegt Raureif auf Dächern und Bäumen. Poupchette kneift Fédorine ins Gesicht, und die alte Frau lässt sich alles gutmütig gefallen. Emélia sitzt auf ihrem Stuhl am Fenster und blickt nach draußen. Sie singt vor sich hin.
Gerade habe ich den Bericht abgeschlossen. In wenigen Stunden werde ich ihn Orschwir bringen, und alles wird zu Ende sein. Das hoffe ich zumindest. Ich habe versucht, alles zu erzählen, ohne jemanden zu verraten. Aber ich habe auch nichts verheimlicht oder beschönigt. Ich habe alles so geschildert, wie es geschehen ist. Nur für den letzten Tag des Anderen , den Tag vor dem Ereignis, fehlen mir noch einige Angaben. Keiner wollte mit mir darüber sprechen. Keiner wollte mir etwas sagen.
Ich begleitete den Anderen an dem Morgen, nachdem man die Kadaver des ertrunkenen Pferdes und des ertrunkenen Esels gefunden hatte, ins Gasthaus zurück. Schloss öffnete uns die Tür. Wir sahen uns wortlos an. Der Andere ging hinauf in sein Zimmer und kam den ganzen Tag nicht mehr heraus. Den Teller, den Schloss ihm nach oben brachte, rührte er nicht an.
Die Leute gingen wieder ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Der Regen hatte aufgehört, und die Männer arbeiteten wieder auf den Feldern und in den Wäldern. Auch die Tiere sahen wieder munterer aus. Neben dem Fluss wurde ein Scheiterhaufen errichtet, auf dem man Monsieur Socrate und Mademoiselle Julie verbrannte. Die Dorfjungen sahen den ganzen Tag lang zu, warfen gelegentlich Äste in die Glut, und als sie am Abend nach Hause kamen, rochen ihre Kleider und Haare nach verbranntem Fleisch und verkohltem Holz. Dann kam die Nacht.
Eine Stunde nach Sonnenuntergang hörten wir die ersten Schreie. Eine schrille, hohe, klagende Stimme rief vor jeder Tür: «Mörder! Mörder!», die Stimme des Anderen . Wie ein Nachtwächter erinnerte er alle an das, was sie getan oder zumindest nicht verhindert hatten. Keiner sah ihn, aber jeder hörte ihn. Wir machten die Türen und Fensterläden nicht auf. Wir hielten uns die Ohren zu und verkrochen uns in den Betten.
Am nächsten Tag sprach man in den Geschäften und Cafés, im Gasthaus, an den Straßenecken und auf den Feldern kaum über den Vorfall. Man erwähnte ihn kurz und wechselte schnell das Thema. Der Andere blieb in seinem Zimmer, und es war, als wäre er nicht mehr da, als wäre er verschwunden. Aber auch am zweiten Abend hörte man zwei Stunden nach Sonnenuntergang in allen Straßen und vor allen Türen die düstere Klage: «Mörder! Mörder!»
Ich betete, dass er aufhören möge. Ich wusste, wie das alles enden musste. Das Pferd und den Esel zu töten, das war nur der Anfang gewesen. So hätten sich die erhitzten Gemüter der Männer eine Weile abkühlen können, aber wenn man jetzt ihre Nerven noch mehr reizte, würden sie sich etwas Neues ausdenken, eine endgültige Lösung. Ich habe versucht, ihm das zu sagen. Ich ging ins Gasthaus und klopfte an die Tür seines Zimmers, es kam keine Antwort. Ich legte mein Ohr an das Holz, aber ich hörte nichts. Ich drückte die Klinke hinunter, die Tür war verschlossen. In diesem Augenblick entdeckte mich Schloss.
«Was machst du da, Brodeck? Ich
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