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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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habe dich nicht ins Haus kommen sehen!»
    «Wo ist er?»
    «Wer denn?»
    «Der Andere !»
    «Hör auf, Brodeck, bitte, hör auf …»
    Mehr sagte Schloss an diesem Tag nicht. Er drehte sich um und ging fort.
    Abends, zur selben Uhrzeit, trat der Andere erneut seine Runde an und begann seine Klage. Aber diesmal flogen die Fensterläden auf, Steine und Flüche prasselten auf ihn nieder. Was den Anderen aber nicht daran hinderte, weiter durch das Dorf zu gehen und in die Dunkelheit hinein zu rufen: «Mörder! Mörder!» Ich konnte nur mit Mühe einschlafen. Ich habe gelernt, dass die Toten die Lebenden nie in Ruhe lassen. Die Toten tun sich zusammen, obwohl sie sich im Leben nicht gekannt haben. Sie setzen sich nachts auf unsere Bettkanten, sehen uns an, und wir schrecken aus dem Schlaf. Manchmal streichen sie uns über die Stirn, manchmal fahren sie uns mit ihren fleischlosen Händen über die Wangen. Sie versuchen, unsere Lider zu öffnen, aber selbst wenn es ihnen gelingt, können wir sie nicht immer sehen.
    Den ganzen folgenden Tag verließ ich das Haus nicht. Ich dachte über die Geschichte nach, über die große und über meine eigene und unsere Geschichte. Kennen die Geschichtsschreiber diese kleinen, persönlichen Geschichten? Hat der recht, der sich entscheidet, das Vergangene ans Licht zu holen, oder der andere, der hastig alles vergisst, was ihm nicht gefällt? Vielleicht leben wir deshalb, vielleicht leben wir deshalb weiter, weil wir uns entscheiden, dass die Wirklichkeit nicht ganz wirklich ist, weil wir uns in eine andere Wirklichkeit denken können, wenn die Gegenwart zu unerträglich wird? Habe ich nicht genau das im Lager getan? Habe ich mich nicht dafür entschieden, in der Erinnerung an Emélia zu leben? Das war meine Gegenwart, und mein tägliches Leben, das, was mich wirklich umgab, war nichts als ein böser Traum. Die große Geschichte ist vielleicht am Ende eine solche höhere Wahrheit, die aus Tausenden persönlichen Lügen zusammengesetzt ist, eine Flickendecke, wie Fédorine sie früher herstellte, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, damals, als ich noch klein war – die Decken waren bunt wie der Regenbogen, und sie sahen neu und prächtig aus, obwohl sie aus vielen verschiedenen Stoff- und Wollresten bestanden.
    Als die Sonne unterging, saß ich immer noch im Dunkeln auf meinem Stuhl. Fédorine hatte die Kerze nicht angezündet. Zu viert saßen wir im Dämmerlicht und schwiegen. Ich wartete, wartete auf die Klage des Anderen , darauf, dass seine düsteren Anschuldigungen durch die Nacht hallen würden, aber nichts geschah. Draußen war es dunkel und still. Da bekam ich Angst. Wie schon lange nicht mehr spürte ich, dass die Angst in mich hinein, in meinen Bauch, unter meine Haut kroch und sich in mir ausbreitete. Poupchette sang ein Lied. Sie hatte leichtes Fieber, das Fédorines Säfte und Kräutertees bisher nicht hatten senken können. Die alte Frau erzählte ihr Geschichten, damit sie sich beruhigte. Gerade wollte sie die Geschichte von Bilissi , dem armen Schneider, beginnen und bat mich, im Gasthaus Schloss ein Stück Butter für sie zu besorgen, damit sie Kekse für Poupchette backen konnte, die die Kleine morgens in ihre Milch würde tunken können. Eine Weile blieb ich reglos sitzen. Ich wollte nicht aus dem Haus gehen, aber Fédorine bestand darauf. Also erhob ich mich, nahm meine Jacke und hörte beim Hinausgehen noch, wie die Stimme der Alten die ersten Worte der Geschichte erzählte, während meine fiebrig rosige Poupchette ihre kleinen Hände nach mir ausstreckte und sagte: «Papa, komm zurück, mein Papa! Komm zurück!»
    Die Geschichte von Bilissi ist merkwürdig. Als ich selbst noch ein Kind war, hat Fédorine sie mir erzählt, und wahrscheinlich lauschte ich dieser Geschichte stets besonders aufmerksam, weil ich immer das Gefühl hatte, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben: dass ich mich an nichts mehr festhalten konnte und dass es das, was ich vor meinen Augen sah, vielleicht gar nicht wirklich gab.
    «Bilissi ist ein kleiner, armer Schneider, der mit seiner Mutter, seiner Frau und seiner kleinen Tochter in Pitopoi, einer Stadt, die es nicht wirklich gibt, in einem baufälligen Haus lebt. Eines Tages bekommt er Besuch von drei Rittern. Der erste Ritter tritt vor und bestellt ein rotes Samtgewand für den König, seinen Gebieter. Bilissi führt den Auftrag aus und überreicht ihm das schönste Gewand, das er je genäht hat. Der Ritter nimmt es und sagt zu

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