Brodecks Bericht (German Edition)
Kachelofen stehengeblieben, der eine ganze Ecke des Raumes ausfüllt. Er bückte sich und nahm ein Scheit von dem ordentlich an der Wand aufgeschichteten Holzstapel. Er öffnete die Feuerungsklappe und steckte das Scheit hinein. Schöne, kurze Flammen tanzten um das Holz. Der Bürgermeister machte die Klappe nicht sofort wieder zu, sondern sah lange in die Flammen. Sie machten ein fröhliches Geräusch, wie die trockenen Blätter an den Ästen der Eichen im Herbstwind rascheln.
«Der Hirte muss immer an morgen denken. Alles, was gestern war, ist vorbei, und was zählt, ist das Leben, das weißt du sehr gut, Brodeck, denn du bist von einem Ort zurückgekehrt, von wo es keine Wiederkehr gibt. Und ich muss dafür sorgen, dass auch die anderen Menschen hier leben und den kommenden Tag ins Auge fassen können.»
Jetzt verstand ich, was er vorhatte.
«Das kannst du nicht tun …», sagte ich.
«Und warum nicht, Brodeck? Ich bin der Hirte, die Herde verlässt sich darauf, dass ich alle Gefahren von ihr fernhalte. Und die Erinnerung ist die schlimmste Gefahr, das brauche ich dir doch nicht zu erzählen, du erinnerst dich doch an alles, du erinnerst dich an zu vieles.»
Orschwir pochte mir mit dem zusammengerollten Bericht zweimal gegen die Brust, vielleicht um mich auf Abstand zu halten, vielleicht aber auch, weil er einen Gedanken in mich einhämmern wollte wie einen Nagel in ein Brett:
«Es ist Zeit zu vergessen, Brodeck. Die Menschen müssen vergessen.»
Dann schob Orschwir den Bericht in den Ofen. Die Seiten gingen im Nu in Flammen auf und entfalteten sich wie die Blütenblätter einer fremdartigen, riesigen, bizarren Blume, die Seiten krümmten sich, glühten auf, wurden schwarz, fielen dann grau zusammen und mischten sich in den brennenden Staub.
«Sieh hin», flüsterte mir Orschwir ins Ohr, «es ist nichts davon übrig, keine Spur. Bist du auch nicht mehr traurig deswegen?»
«Du hast Papier verbrannt, aber nicht meine Gedanken!»
«Da hast du recht, es war nur Papier, aber auf diesem Papier stand alles, was das Dorf vergessen will und auch vergessen wird. Nicht alle sind wie du, Brodeck.»
Als ich nach Hause kam, habe ich Fédorine alles erzählt. Sie hielt Poupchette auf ihrem Schoß. Die Kleine machte Mittagsschlaf. Ihre Wangen schimmerten zart wie die Blütenblätter der Pfirsichbäume in unseren Obstgärten, die ersten, die uns zu Beginn des Frühlings mit ihrem blassen Rosa erfreuen. Wir nennen sie hier Paradiesblumen. Ein merkwürdiger Name, wenn man es recht bedenkt, als ob das Paradies von dieser Welt sein könnte, als ob es überhaupt irgendwo existieren könnte. Emélia saß am Fenster.
«Was hältst du davon, Fédorine?», fragte ich endlich.
Sie antwortete nicht, sondern gab nur ein paar zusammenhanglose, sinnlose Sätze von sich. Nach einer Weile sagte sie dann aber doch:
«Du musst entscheiden, Brodeck, du allein. Wir werden tun, was du sagst.»
Ich sah sie alle drei an, das kleine Mädchen, die Frau und die alte Großmutter. Die eine schlief, als wäre sie noch nicht geboren, die Zweite sang abwesend vor sich hin, und die Dritte sprach mit mir, als wäre sie schon nicht mehr auf dieser Welt.
Also habe ich mit einer Stimme, die seltsam und kaum wie meine eigene klang, gesagt:
«Morgen gehen wir fort.»
40
Ich habe den alten Karren wieder hervorgeholt. Den Karren, mit dem Fédorine und ich vor langer Zeit hier angekommen sind. Ich hätte nie gedacht, dass wir eines Tages noch einmal mit ihm fortgehen würden. Aber vielleicht gibt es für Menschen wie uns immer nur Abschiede.
Jetzt bin ich weit weg.
Weit weg von allem.
Weit weg von den anderen.
Ich habe das Dorf verlassen.
Vielleicht bin ich auch nirgends. Vielleicht habe ich die Geschichte verlassen? Vielleicht bin ich nur noch ein Reisender in einem Märchen – vorausgesetzt, die Zeit der Märchen ist schon gekommen.
Die Schreibmaschine habe ich im Haus gelassen. Ich brauche sie nicht mehr. Von nun an schreibe ich nur noch in meinen Gedanken. Keiner wird das Buch je lesen. Ich muss es nicht verstecken. Niemand wird es je finden können.
Als ich heute Morgen früh aufwachte, spürte ich Emélia neben mir liegen und sah Poupchette in der Wiege schlafen, den Daumen im Mund. Ich nahm beide hoch und trug sie in die Küche, wo Fédorine, zum Aufbruch bereit, wartete. Die Bündel waren gepackt. Wir verließen leise das Haus. Ich nahm auch Fédorine auf den Arm, sie wiegt nichts mehr, so alt ist sie geworden. Das Leben hat sie
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