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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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und Würmern. Der Tod der Füchse war anscheinend nicht gewaltsam herbeigeführt worden, denn wir fanden keine Spuren von Gewalteinwirkung. Alle, die ein solches totes Tier fanden, wunderten sich über die seltsame Körperhaltung: Der Fuchs lag auf der Seite oder auf dem Rücken und streckte die Pfoten von sich, als hätte er versucht, nach etwas zu greifen. Seine Augen waren geschlossen, und er sah aus, als ob er ruhig schliefe.
    Zunächst hatte ich in dieser Angelegenheit Ernst-Peter Limmat aufgesucht, der mein Lehrer und überhaupt der Lehrer zweier Generationen von Schülern in meiner Dorfschule gewesen war. Jetzt ist er über achtzig und geht kaum noch aus dem Haus, aber seinem Gehirn kann die Zeit nichts anhaben. Meistens sitzt er in einem Lehnstuhl vor dem Kamin, wo ständig ein nach Buchen- und Tannenholz duftendes Feuer brennt. Er sieht in die Flammen, liest noch einmal die Bücher aus seiner Bibliothek, raucht Tabak und brät Kastanien, die er mit seinen langen, eleganten Fingern schält. Er gab mir eine ganze Handvoll, und wir zerbrachen sie in kleine Stücke, ließen sie ein bisschen abkühlen und aßen die warmen, fleischigen Kastanien genüsslich auf, während meine feuchte Jacke am Feuer trocknete.
    Peter Limmat hatte nicht nur vielen hundert Kindern lesen und schreiben beigebracht, er war wohl auch der größte Jäger und Waldläufer unserer Gegend gewesen. Mit geschlossenen Augen könnte er immer noch jeden Wald, jeden Felsen, jeden Gipfel und jeden Bach zeichnen und ohne sich zu irren auf einer Landkarte eintragen.
    Früher war er nach dem Unterricht wandern gegangen, denn er hatte den Menschen die Gesellschaft der Tannen, Vögel und Quellen vorgezogen. Zur Jagdzeit verschwand er, wenn die Schule geschlossen war, manchmal tagelang, und wenn er zurückkehrte, sahen wir, dass seine Augen vor Freude glänzten. Er brachte in seiner Jagdtasche Auerhähne, Fasanen und Krammetsvögel mit, und manchmal trug er ein Reh oder sogar eine Gämse über der Schulter, die er auf den steilen Felsen der Hörni erlegt hatte, dort, wo sich schon manch anderer Jäger die Knochen gebrochen hatte.
    Das Merkwürdigste dabei war, dass Limmat die Tiere, die er schoss, nicht aß, sondern das Wildbret an Bedürftige verteilte. Ihm war es zu verdanken, dass Fédorine und ich, als ich noch ein kleiner Junge war, manchmal Fleisch zu essen bekamen. Limmat selbst aß nur Gemüse, magere Brühen, Eier, Forellen und Pilze, am liebsten Totentrompeten, die für ihn, hatte er mir einmal gesagt, die Könige der Pilze waren. Sie sehen nur so unheimlich aus, um die Unwissenden zu täuschen und abzuschrecken. Diese Pilze hingen in seinem Haus überall in langen Girlanden zum Trocknen und verströmten ihren Geruch nach Lakritz und Dung. Er hatte nie geheiratet, aber in seinem Haus lebte außer ihm noch seine Hausangestellte Mergrite, die ungefähr im selben Alter wie er war und der böse Zungen früher nachgesagt hatten, sie leiste Limmat noch andere Dienste als Wäschewaschen und Möbelpolieren.
    Ich hatte ihm die Geschichte von den Füchsen und ihrem friedlichen Tod erzählt. Aber er hatte auch keine Erklärung, so ein Fall sei ihm noch nie untergekommen. Er versprach jedoch, in seinen Büchern nachzuschlagen und mich zu benachrichtigen, falls er herausfinden sollte, dass sich ähnliche Fälle vielleicht schon früher irgendwo ereignet hätten. Dann kamen wir auf den Winter zu sprechen, der bald kommen würde, und über den Schnee, der täglich immer weiter die Berg- und Talhänge hinunterkam und wohl bald unser Dorf erreichen würde.
    Wie die anderen alten Männer des Dorfes war auch Limmat am Abend des Ereignisses nicht im Gasthaus Schloss gewesen. Aber ich fragte mich, ob er wohl über das Geschehene unterrichtet war. Ich fragte mich sogar, ob er überhaupt wusste, dass der Andere sich in unserem Dorf aufgehalten hatte, ob man ihm davon berichtet hatte. Gerne hätte ich ihm alles erzählt und mich ihm anvertraut.
    «Es ist schön, Brodeck, dass du dich noch an deinen alten Lehrer erinnerst. Ich bin gerührt. Weißt du noch, wie es war, als du in meine Klasse kamst? Ich erinnere mich noch sehr gut. Du hast ausgesehen wie ein magerer Hund mit viel zu großen Augen und hast ein Kauderwelsch gesprochen, das nur du und Fédorine verstanden haben. Aber du hast schnell gelernt, Brodeck, sehr schnell. Unsere Sprache und alles andere.»
    Mergrite kam ins Zimmer und reichte uns ein Glas Glühwein, der nach Pfeffer, Orange, Nelken und Sternanis

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