Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
Bronderpiz, der Hörni-Grat und die Hörnispitze, unser höchster Gipfel, der Dura-Pass, der Floria-Gipfel und schließlich, ganz im Westen, das Mausein-Horn, das aussieht wie ein gebeugter Mann.»
    Ich schwieg; er schrieb die Namen in sein Heft, das er wieder aufgeschlagen hatte und nun schnell in seine Tasche steckte.
    «Tausend Dank», sagte er und drückte mir herzlich die Hand, während seine großen grünen Augen leuchteten, als hätte ich ihm einen Schatz geschenkt. Ich wollte gerade weitergehen, als er noch hinzufügte:
    «Man hat mir erzählt, dass Sie sich für Blumen und Kräuter interessieren. Da haben wir etwas gemeinsam. Ich bin ein großer Liebhaber von Landschaften, Figuren und Porträts. Und ich habe seltene Bücher mitgebracht, die Sie interessieren könnten. Ich wäre höchst erfreut, wenn ich sie Ihnen zeigen könnte, falls Sie mir einmal die Ehre eines Besuchs erweisen.»
    Ich habe genickt, aber nichts gesagt. Noch nie hatte ich ihn so viel auf einmal sprechen hören. Ich ging und ließ ihn neben dem Stein sitzen.
    «Und du hast ihm wirklich alle Namen gesagt?» Wilhelm Vurtenhau warf die Hände in die Luft und sah mich verärgert an. Er war gerade in dem Moment in Gustav Röppels Eisenwarenhandlung gekommen, als ich meine Begegnung mit dem Anderen erzählte, die wenige Stunden zuvor stattgefunden hatte. Gustav war ein Schulfreund. Neben ihm hatte ich auf der Schulbank gesessen und ihm oft gestattet, bei mir abzuschreiben, wofür er mir Nägel, Schrauben und etwas Schnur schenkte, die er in dem Geschäft, das damals noch seinem Vater gehörte, stibitzt hatte. Ich habe geschrieben, dass Gustav ein Freund war , denn heute bin ich mir nicht mehr sicher. Bei dem, was sie mit dem Anderen gemacht haben, war er dabei gewesen. Er hat etwas getan, was nicht wiedergutzumachen ist. Er hat kein Wort mehr mit mir gesprochen, obwohl wir uns seither jeden Sonntag nach der Messe begegnet sind, auf dem Kirchenvorplatz, wohin Pfarrer Peiper, torkelnd und rotgesichtig, seine Schäflein hinausbegleitet, bevor er sie noch einmal segnet, wobei er immer etwas fahrig und zerstreut wirkt. Seit dem Ereignis habe ich mich auch nicht mehr in Gustavs Geschäft gewagt, weil ich Angst habe, dass unsere Freundschaft für immer zerstört ist.
    Ich habe, glaube ich, schon erwähnt, dass Vurtenhau steinreich, aber auch sehr dumm ist. Er hieb mit der Hand auf Röppels Tresen, sodass eine Schachtel Heftzwecken hinunterpurzelte.
    «Ja, ist dir denn klar, was du getan hast, Brodeck? Du hast ihm verraten, wie unsere Berge heißen, und er hat es auch noch aufgeschrieben!»
    Vurtenhau war außer sich. Seine riesigen, dunkelvioletten Ohren sahen aus, als hätte sich darin alles Blut seines Körpers gestaut. Vergeblich machte ich ihn darauf aufmerksam, dass die Namen der Gipfel wohl kein Geheimnis, sondern allgemein bekannt seien und von jedermann in den entsprechenden Dokumenten nachgelesen werden konnten. Aber das beruhigte ihn keineswegs.
    «Weißt du denn, was der im Schilde führt? Er schnüffelt überall herum und stellt scheinbar harmlose Fragen, der mit seinem Karpfenkopf und seinem scheinheiligen Getue. Wie aus dem Nichts ist er hier aufgetaucht!»
    Um Vurtenhau zu besänftigen, sagte ich, dass der Andere sich eben einfach für die Natur und für Landschaften interessierte, aber das machte ihn nur noch wütender. Er wandte sich um und rief beim Hinausgehen einen Satz, der mir damals belanglos erschien, dessen bedrohlichen Unterton ich aber heute begreife:
    «Vergiss nicht, Brodeck, wenn etwas passiert, bist du schuld!»
    Dann warf er die Tür zu. Gustav und ich sahen uns an, zuckten gleichzeitig die Achseln und lachten – unbeschwert, wie früher, als wir noch Kinder waren.

14
    Fast zwei Stunden habe ich bis zu Sterns Hütte gebraucht, obwohl man bei schönem Wetter nur eine gute Stunde unterwegs ist. Kaum hatte ich den Laubwald hinter mir gelassen und den höher gelegenen Tannenwald erreicht, versank ich bis zu den Knien im Schnee. Im Wald war es still. Ich sah kein Wild, keinen Vogel und hörte nichts, nur das Rauschen des Staubi, der etwa zweihundert Meter weiter unten in einem Wasserfall auf die Felsen stürzt.
    Am Lingen war ich nicht stehengeblieben. Ich war sogar noch etwas schneller gegangen und hatte tief die eisige, trockene Luft eingesogen. Zu groß war meine Angst gewesen, ich könnte am Lingen dem Gespenst des Anderen begegnen. Sein Geist würde auf dem kleinen Schemel sitzen und in die Landschaft blicken, oder er

Weitere Kostenlose Bücher