Brodecks Bericht (German Edition)
den Schluss, dass mir wahrscheinlich nur Markus Stern helfen konnte, der etwa eine Stunde Fußmarsch von unserem Dorf entfernt alleine mitten im Wald wohnt. An jenem Morgen, als ich Orschwir auf der Straße begegnete, war ich zu ihm unterwegs.
13
Der Fußweg zu Sterns Hütte führt gleich hinter dem Dorfausgang steil den Berg hinauf. Nach einigen Kurven steht man schon auf einem Überhang oberhalb der Dächer. Auf halbem Weg lädt ein Felsen, der wie ein Tisch geformt ist, zur Rast ein. Der Rastplatz heißt Lingen, so heißen bei uns die kleinen Waldfeen, die sich der Legende nach in klaren Nächten hier zum Tanz treffen und ihre Lieder singen und kichern. An einigen Stellen polstern blassgrüne Mooskissen die harte Oberfläche des Felsens, und Sträuße aus Farnkraut wachsen dort. Es ist ein schöner Ort für Verliebte und Träumer. Ich erinnere mich, dass ich an einem Tag im Sommer, am 8. Juli gegen drei Uhr nachmittags, dort den Anderen gesehen habe – ich notiere alles genau –, zu einer brütend heißen Tageszeit also, wenn die Sonne scheinbar stillsteht und ihr Licht wie geschmolzenes Blei über die Erde gießt. Ich pflückte Erdbeeren, nach denen meine Poupchette ganz verrückt ist. Ich wollte sie damit überraschen, wenn sie aus dem Mittagsschlaf aufwachen würde.
Im Wald brummten die geschäftigen Bienen und Wespen, die rasenden Fliegen und Bremsen, die ziellos in der Gegend umherschwirrten, als wären sie außer Rand und Band. Eine beglückende Symphonie, die Erde und Himmel komponiert hatten. Im Dorf war ich keiner Menschenseele begegnet.
Nach der kurzen Steigung wollten meine Beine mich kaum mehr tragen, und ich rang nach Luft. Das nassgeschwitzte Hemd klebte mir auf der Haut. Ich war stehengeblieben und schöpfte Atem, als ich plötzlich bei dem Felsen, nur wenige Meter vor mir, den Anderen bemerkte, der mit dem Rücken zu mir stand und hinunter auf die Dächer des Dorfes sah. Er saß auf seinem merkwürdigen Schemel, den alle neugierig begafft hatten, als er ihn das erste Mal aufstellte: Das breite Hinterteil des Anderen fand darauf Platz, doch wenn man den Hocker zusammenklappte, sah er aus wie ein einfacher Spazierstock.
Sein schwarzer Anzug und sein ewig gleicher, makellos gebügelter Gehrock schienen nicht in die grün-gelbliche Umgebung des Waldes zu passen, und als ich ein wenig näher kam, bemerkte ich, dass er sogar ein Hemd mit Jabot und eine Weste aus Wollstoff trug sowie Gamaschen über den großen, gewichsten Schuhen, in denen sich das Licht spiegelte.
Einige Zweige knackten unter meinen Schritten, er drehte sich um und sah mich. Wahrscheinlich machte es den Eindruck, als hätte ich mich heimlich herangeschlichen, aber der Andere wirkte nicht erstaunt, sondern lächelte und lüpfte zur Begrüßung mit der rechten Hand einen imaginären Hut. Seine Wangen waren gerötet, und Stirn, Kinn und Nase waren mit einer weißen Creme bedeckt. Mit den schwarzen Locken beiderseits seines kahlen Schädels sah er jetzt vollends wie ein alter Komiker aus. Über sein Gesicht liefen dicke Schweißtropfen, die er mit einem Taschentuch abtupfte. Ich konnte das Monogramm, das darauf gestickt war, nicht lesen.
«Sie kommen wohl auch hierher, um die Welt zu vermessen?», sagte er mit seiner schönen, leisen, gezierten Stimme und wies mit der Hand in die Weite der Landschaft. Da bemerkte ich das Heft auf seinen dicken Knien und den Bleistift in seiner Hand. Auf der aufgeschlagenen Seite seines Skizzenheftes waren Linien und schraffierte Flächen erkennbar. Als er bemerkte, wohin mein Blick ging, schlug er das Büchlein schnell zu.
Zum ersten Mal, seit er bei uns im Dorf weilte, war ich mit ihm allein, und zum ersten Mal sprach er mich an.
«Wären Sie wohl so liebenswürdig, mir einen Dienst zu erweisen?», fragte er, und als ich nicht antwortete und mein Gesichtsausdruck wahrscheinlich eher abweisend war, lächelte er rätselhaft und sprach weiter: «Seien Sie unbesorgt, ich wäre nur dankbar, wenn Sie mir die Namen dieser Berge, die das Tal umgeben, nennen könnten. Ich fürchte, dass meine Karten ungenau sind.»
Wieder machte er eine ausladende Bewegung mit der Hand, indem er auf die Berge vor uns wies, die sich in der Ferne abzeichneten. Sie flimmerten in der sommerlichen Hitze und schienen an manchen Stellen mit dem Himmel zu verschmelzen. Ich kniete mich neben ihn.
«Nun, das ist der Hunterpiz, der so heißt, weil er an einen Hundekopf im Profil erinnert, dann die drei Schnikelköpfe, dort der
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