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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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geplündert worden. Das Rathaus war nicht zerstört worden, und an den Tränken der großen Brunnen tranken schöne braune Kühe, schweigend und friedlich blickend, während der kleine Junge, der sie hütete und zum Melken führte, mit einem roten Holzkreisel spielte.
    Der alte Mann saß auf der Bank an der Hauswand eines der letzten Häuser des Dorfes. Er schien zu schlafen, beide Hände ruhten auf dem Griff eines Stocks aus Stechpalmenholz, seine Pfeife war erloschen. Ein Filzhut verdeckte zur Hälfte sein Gesicht. Ich war schon an ihm vorbeigegangen, als ich hörte, wie er mich ansprach, mit einer schleppenden Stimme, die klang, als ob er mir sanft die Hand auf die Schulter legte:
    «Kommen Sie her … So kommen Sie doch …»
    Einen Augenblick glaubte ich, ich hätte nur geträumt. «Ja, mit Ihnen spreche ich, junger Mann!»
    Junger Mann, diese Anrede war komisch. Ich wollte sogar lächeln, aber ich hatte das Lächeln verlernt. Die Muskeln meines Mundes, meiner Lippen, meiner Augen wussten nicht mehr, wie man lächelt, und meine zerschlagenen Zähne schmerzten. Ich war kein junger Mann mehr. Im Lager war ich viele Jahrhunderte gealtert. Ich hatte Unsagbares durchgemacht, und während wir unsere grausame Lehrzeit absolvierten, waren unsere Körper zerfallen. Wohlgenährt war ich einst fortgegangen, aber jetzt war ich nur noch Haut und Knochen. Zum Schluss ähnelten wir uns wie ein Ei dem anderen, wir waren zu ununterscheidbaren Schatten, waren austauschbar geworden, und so konnte man jeden Tag einige von uns ermorden und durch neue Gefangene ersetzen, ohne dass es auffiel. Die Schatten mit den knochigen Gesichtern sahen alle gleich aus, wir waren nicht mehr wir selbst. Wir waren keine Menschen mehr, sondern nur noch Angehörige einer Spezies.

11
    Der alte Mann führte mich zu seinem Haus, wo es nach kühlem Stein und Heu duftete. Er ließ mich auf einer schönen, gewachsten Truhe mein Bündel ablegen, in dem sich so gut wie nichts befand, abgesehen von einigen Lumpen, die ich eines Morgens aus der Asche einer Scheune herausgezogen hatte, und einer zerrissenen Bettdecke, die immer noch verkohlt roch.
    Im ersten Zimmer, das eine niedrige Decke hatte und ganz mit Tannenholz ausgekleidet war, stand ein runder gedeckter Tisch, als wäre ich erwartet worden. Auf einer Tischdecke aus Baumwolle waren zwei Teller einander gegenüber platziert und in der Mitte eine Tonvase mit einem Strauß anmutiger, reizender Wiesenblumen, die sich im leisesten Windhauch bewegten und ihren zarten Duft verströmten.
    Zugleich traurig und froh, musste ich an den Studenten Kelmar denken, aber der alte Mann legte mir die Hand auf die Schulter und bat mich, Platz zu nehmen.
    «Sie brauchen eine gute Mahlzeit und erholsamen Schlaf. Meine Haushälterin hat vorhin ein Kaninchen mit Kräutern und einen Quittenkuchen zubereitet. Das Essen hat nur auf Sie gewartet.»
    Er ging in die Küche und kehrte mit einer grünlasierten Platte zurück, auf der ein Kaninchen mit Möhren, roten Zwiebeln und Thymianzweigen angerichtet war. Ich war sprachlos. Der alte Mann tat mir auf und schnitt eine dicke Scheibe Weißbrot für mich ab. Dann goss er mir klares Wasser ins Glas. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich wirklich in diesem Haus befand oder ob dies nicht doch einer der zahllosen Wunschträume war, die mich nachts im Lager heimgesucht hatten.
    Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
    «Verzeihen Sie, dass ich Ihnen keine Gesellschaft leiste, aber in meinem Alter isst man nicht mehr viel. Aber bitte, fangen Sie doch an.»
    Seit langer Zeit war dies der erste Mann, der mit mir sprach wie mit einem Menschen. Tränen liefen mir über die Wangen. Die ersten Tränen seit langer Zeit. Ich umklammerte die Armlehnen des Stuhls, als hätte ich Angst, ins Leere zu stürzen, öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Aber ich brachte kein Wort heraus.
    «Sagen Sie nichts», sprach er weiter, «ich erwarte nichts von Ihnen. Ich weiß nicht genau, woher Sie kommen, aber ich kann es vielleicht ahnen.»
    Ich kam mir vor wie ein Kind. Meine Bewegungen waren ungeschickt und hastig. Er sah mich gütig an. Ich vergaß meine verfaulten Zähne und stürzte mich auf das Essen, wie ich es auch im Lager getan hatte, wenn die Aufseher mir einen Kohlstrunk, eine Kartoffel oder einen Kanten Brot hingeworfen hatten. Ich habe das ganze Kaninchen und alles Brot aufgegessen, den Teller abgeleckt und danach den Kuchen verschlungen. Tief in mir steckte immer noch die Angst, man würde

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