Brodecks Bericht (German Edition)
mit Hilfe seiner Worte wieder sprechen lernen, um irgendwann wieder ein Mensch sein zu können.
Als ich wieder etwas zu Kräften gekommen war, beschloss ich, am nächsten Morgen bei Tagesanbruch aufzubrechen, wenn der Geruch von frischem Gras und Tau ins Haus dringen würde. An einigen Stellen meines Kopfes wuchs schon mein Haar nach, und ich sah aus wie ein Genesender, der eine rätselhafte, schwere Krankheit überstanden hatte. Meine Haut war immer noch aschfahl, und die Augen lagen tief in den Höhlen.
Dem alten Mann hatte ich gesagt, dass ich weiterwollte, und er wartete am Morgen an der Türschwelle auf mich. Er gab mir eine Schultertasche aus grauem Leinen mit einem Lederriemen. Sie enthielt zwei große Brotlaibe, einen Streifen Speck, eine Wurst und einige Kleidungsstücke.
«Nehmen Sie nur», sagte er, «sie werden Ihnen passen. Sie haben meinem Sohn gehört, aber er wird nicht zurückkehren. Wahrscheinlich ist es besser so.»
Plötzlich kam es mir vor, als wäre die Tasche, die ich gerade genommen hatte, sehr schwer. Der alte Mann reichte mir die Hand.
«Gute Reise, Brodeck.»
Seine Stimme bebte. Ich nahm seine Hand, die kalt und trocken war und deren fleckige Haut in meiner Handfläche knitterte.
«Bitte», flüsterte er noch, «verzeihen Sie ihm … verzeihen Sie ihnen …» Seine Stimme erstarb.
12
Seit mindestens fünf Tagen habe ich nicht mehr an dieser Erzählung gearbeitet. Einige Blätter des Papierstapels, den ich in einem Winkel des Schuppens versteckt hatte, waren sogar schon mit Erde und mit einer gelben Schicht bedeckt, die an Blütenstaub erinnert. Ich muss ein besseres Versteck finden.
Die anderen ahnen nichts. Sie sind überzeugt, dass ich an dem Bericht arbeite, den sie bei mir in Auftrag gegeben haben, und sie glauben, dass diese Aufgabe mich ganz in Beschlag nimmt. Die Tatsache, dass Göbbler mich kürzlich abends noch so spät in meinem Schuppen überraschte, hat sich letztlich zu meinen Gunsten ausgewirkt. Als ich am nächsten Tag zufällig Orschwir auf der Straße begegnet bin, hat er mir die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: «Es sieht ganz so aus, als ob du hart arbeitest, Brodeck. Mach weiter so.» Dann ist er weitergegangen. Es war noch früh am Tag. Gerade dachte ich darüber nach, warum er wohl bereits unterrichtet war, dass ich um Mitternacht noch auf der Maschine geschrieben hatte, als seine Stimme noch einmal durch den eiskalten Morgennebel drang: «Aber wohin willst du eigentlich mit deiner Tasche, Brodeck, noch dazu um diese Zeit?» Ich blieb stehen. Orschwir beobachtete mich und zog sich gleichzeitig mit beiden Händen seine Mütze noch tiefer ins Gesicht. Um sich aufzuwärmen, schlug er die Füße gegeneinander, weißer Atem stieg ihm aus dem Mund.
«Muss ich jetzt auf alle Fragen antworten, die man mir stellt?»
Orschwir lächelte schwach, allerdings sah bei ihm jedes Lächeln wie eine Grimasse aus. Er schüttelte langsam, sehr langsam den Kopf, wie damals, als ich ihn am Tag nach dem Ereignis besucht hatte.
«Du machst mir wirklich Kummer, Brodeck. Das war doch nur eine freundschaftliche Frage. Warum bist du so misstrauisch?»
Mir stockte der Atem. Dennoch gelang es mir, gleichgültig zu tun und die Achseln zu zucken.
«Ich will etwas über die Füchse herausfinden. Ich muss eine kurze Meldung darüber schreiben.»
Orschwir dachte kurz über das nach, was ich gesagt hatte, und warf einen Blick auf meine Tasche, als ob er ergründen wollte, was sich darin verbarg.
«Die Füchse? Natürlich … Die Füchse … Na dann, einen schönen Tag, Brodeck. Trotzdem, geh nicht zu weit und … halte mich auf dem Laufenden.» Dann wandte er sich um und ging weiter.
Jäger und ein paar Förster haben mich schon vor zwei Wochen benachrichtigt. Während der ersten Treibjagden und beim Holzfällen im Wald haben sie tote Füchse gefunden, und zwar alte und junge, Rüden und Fähen. Zunächst dachte man, es wäre die Tollwut, die bei uns immer wieder grassiert, einige Tiere dahinrafft und dann wieder verschwindet. Aber keiner der toten Füchse zeigte die Symptome der Tollwut, als da sind weißer Schaum auf der Zunge, Untergewicht, verdrehte Augen, glanzloses, verklebtes Fell. Im Gegenteil handelte es sich um prächtige, wohlgenährte Exemplare, die offensichtlich bei bester Gesundheit gewesen waren. Der Metzger Brochiert hat auf meinen Wunsch hin drei von ihnen aufgeschnitten: In ihren Mägen fand er essbare Beeren, Bucheckern, Überreste von Mäusen, Vögeln
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