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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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alles.»
    «Und was ist mit den Füchsen?»
    Stern kratzte sich am Kopf.
    «Wölfe. Füchse. Sie sind doch irgendwie Verwandte oder Freunde. Vielleicht denken nicht nur die Menschen zu viel nach.»
    Stern steckte seine erloschene Pfeife wieder an, goss uns Wein nach und nahm das kleine Frettchen auf den Schoß, das versuchte, unter seine Jacke zu schlüpfen.
    Wir schwiegen lange. Ich weiß nicht, woran Stern dachte, ich jedenfalls versuchte, das zusammenzubringen, was Stern und davor der alte Limmat mir erzählt hatten, aber ich kam zu keinem Ergebnis. Nichts davon konnte ich in einen Bericht schreiben, den ein Beamter aus S. ernst nehmen und nicht gleich in den Ofen schmeißen würde.
    Das Feuer erlosch. Stern warf einige Bündel trockener Ginsterzweige hinein. Wir unterhielten uns noch eine Weile über die Jahreszeiten, den Winter, das Wild, den Holzeinschlag. Über die Füchse sprachen wir nicht mehr. Dann verabschiedete ich mich, denn der Abend kam, und ich wollte vor Eintritt der Dunkelheit wieder zu Hause sein. Stern begleitete mich hinaus. Ein leichter Wind ging und strich über die Wipfel der hohen Tannen, große Placken Schnee stürzten herunter, und im Wind wurde er zu feinem Puder, das sich auf unsere Schultern legte wie weiße Asche. Als wir uns die Hand gaben, fragte Stern:
    «Und der Weise , ist er noch im Dorf?» Erst wollte ich Stern fragen, wen er meinte, aber dann fiel mir wieder ein, dass einige Leute dem Anderen diesen Spitznamen gegeben hatten: der Weise , vielleicht wegen seiner imposanten Erscheinung. Ich habe nicht gleich geantwortet, und plötzlich wurde mir kalt. Stern war an jenem Abend nicht im Gasthaus gewesen und wusste nichts von dem, was passiert war. Wir waren also mindestens zwei, an deren Händen kein Blut klebte. Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte.
    «Er ist fort …»
    «Dann warte», sagte Stern und ging zurück in die Hütte. Als er kurz danach wieder herauskam, trug er ein Paket in den Händen und reichte es mir.
    «Das hat er bei mir bestellt. Ist schon bezahlt. Falls er nicht zurückkommt, kannst du es behalten.»
    Es handelte sich um eine Mütze, ein Paar Fäustlinge und Hausschuhe, alles aus schönem Marderpelz, sehr gut verarbeitet und genäht. Erst zögerte ich, dann nahm ich das Paket. Da sah Stern mich an und sagte:
    «Weißt du was, Brodeck, ich glaube, dass es keine Füchse mehr gibt. Sie sind alle tot. Es wird hier nie mehr welche geben.»
    Und als ich nichts sagte, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, drückte er mir ohne ein weiteres Wort die Hand, und ich blieb noch einen Augenblick unbewegt stehen, bis ich mich auf den Weg zurück ins Dorf machte.

15
    Ich habe bereits erwähnt, dass es schon dunkel wurde, als der Andere mit seinem Pferd und seinem Esel in unser Dorf kam. Er bewegte sich zielstrebig wie eine Katze, die weiß, dass sie die Maus gleich erwischen wird.
    Die Dämmerung ist eine merkwürdige Tageszeit. Die Straßen leeren sich, das Zwielicht lässt sie in kaltem Grau erscheinen, und die Häuser werfen bedrohliche Schatten. Seltsam, was die Nacht in unseren Gedanken anrichtet, sie lässt die gewöhnlichsten Dinge und selbst harmlose Gesichter rätselhaft und undurchdringlich erscheinen. Manchmal aber bringt die Dunkelheit auch das wahre Wesen der Dinge hervor. Man könnte sagen, ich erzähle Schauermärchen aus längst vergangenen Zeiten, man könnte mich einen Narren nennen. Aber man sollte nicht vorschnell urteilen, man sollte sich die Szene genau vorstellen: Dieser Mann aus der Fremde – denn er kam aus dem Nirgendwo, das hatte Vurtenhau, der sonst meistens nur Unsinn von sich gibt, ausnahmsweise richtig erkannt –, dieser Mann mit seinem Anzug wie aus einem früheren Jahrhundert, seinen merkwürdigen Reittieren und seinem geheimnisvollen Gepäck, dieser Mann kam in unser Dorf, als wäre nichts dabei, doch war er der erste Besucher seit Jahren. Wer hätte sich da nicht ein wenig gefürchtet?
    «Ich hatte keine Angst.»
    Der älteste der Dörfer-Brüder beantwortet meine Fragen. Er hatte als Erster im Dorf die Ankunft des Anderen bemerkt.
    Unser Gespräch findet im Café Pipersheim statt. Der Vater des Jungen hat darauf bestanden, dass wir uns dort treffen und nicht bei ihm zu Hause. Wahrscheinlich weil er sich gesagt hat, dort könne er in aller Ruhe ein paar Gläser Wein trinken. Gustav Dörfer ist ein kleiner, unscheinbarer Mann, dessen schmutzige Kleider nach gekochten Rüben riechen. Er verdingt sich auf den

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