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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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würde sogar die Hände nach mir ausstrecken und mich anflehen. Aber um was sollte er mich anflehen?
    Selbst wenn ich an jenem Abend, an dem sie alle verrückt geworden sind, im Gasthaus gewesen wäre – was hätte ich ganz alleine ausrichten können? Hätte ich etwas gesagt oder gar eingegriffen, hätte mich doch dasselbe Schicksal ereilt. Und das erschreckte mich noch mehr: Ich weiß, dass ich, wenn ich an dem Abend im Gasthaus gewesen wäre, nicht eingegriffen hätte, dass ich mich hinter den anderen versteckt und als machtloser Zeuge dem entsetzlichen Geschehen beigewohnt hätte. Meine Feigheit widerte mich an. Im Grunde bin ich keinen Deut besser als die anderen, als die Männer, die mich mit dem Bericht beauftragten, weil sie hofften, ich würde sie so von ihrer Schuld befreien.
    Stern lebt weit ab von der Welt, ich meine, weit ab von unserer Welt. Alle Sterns vor ihm haben immer schon so gelebt, sie blieben tief im Wald und kamen nur selten ins Dorf. Aber er ist der letzte der Sterns, er wohnt allein und hat nie geheiratet. Mit ihm wird seine Familie aussterben.
    Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Fellen, die er gerbt. Im Winter steigt er zweimal ins Dorf hinunter, im Sommer etwas öfter, und verkauft seine Felle und andere Gegenstände, die er aus den Ästen und Stämmen der Tannen herstellt. Mit dem Geld, das er dafür einnimmt, kauft er Mehl, einen Sack Kartoffeln, getrocknete Bohnen, Tabak, Zucker und Salz. Den Rest gibt er für Schnaps aus und steigt dann sturzbetrunken wieder den Berg hinauf. Er verläuft sich nie, seine Füße kennen den Weg.
    Als ich bei seiner Hütte angelangt war, sah ich ihn auf der Türschwelle sitzen. Er war damit beschäftigt, trockene Reiser zu einem Besen zusammenzubinden. Meinen Gruß erwiderte er wortlos mit einem Nicken – Stern war Besuchern gegenüber misstrauisch. Er ging ins Haus, ließ aber die Tür offen.
    Pflanzen, aber auch das eine oder andere Tier hingen zum Trocknen an der Decke und verströmten beißende Gerüche. Das Feuer im Kamin brannte so schwach, dass es eigentlich nur noch Rauch war. Stern nahm zwei Schalen und gab mit einer Schöpfkelle von der sämigen Suppe aus Grütze und Kastanien hinein, die wahrscheinlich schon seit dem Morgen in dem Kessel vor sich hin köchelte. Dann schnitt er zwei dicke Scheiben hartes Brot ab und goss dunklen Wein in zwei Gläser. Wir setzten uns einander gegenüber und aßen schweigend, den Kadavergestank in der Nase, der bestimmt manchen anderen in die Flucht geschlagen hätte. Mir aber war dieser Geruch vertraut, und er störte mich nicht. Ich hatte schon schlimmeren Gestank ertragen.
    Nachdem ich im Lager aus dem Loch herausgekommen war und bevor ich Hund Brodeck wurde, war es über Monate meine Aufgabe gewesen, die Latrinen zu säubern, in die über tausend Gefangene mehrmals täglich ihre Därme entleerten. Diese Latrinen waren Gräben, einen Meter tief, zwei Meter breit und etwa vier Meter lang, und es gab fünf davon. Ich musste sie alle sorgfältig reinigen. Dafür standen mir als einzige Werkzeuge ein großer Topf mit einem angeflickten Holzstiel und zwei Eimer aus Weißblech zur Verfügung. Ich füllte mit Hilfe des Topfs die Eimer, trug sie in mehreren Gängen, neben mir immer zwei Aufseher, zum Fluss und kippte den Inhalt hinein.
    Oft löste sich der Griff des Topfes, da er nur mit einer alten Schnur befestigt war. Der Topf sank auf den Grund der Latrine. Dann musste ich in den Graben steigen, in den Kot hinabtauchen und den Topf mit den Händen ertasten. Ich erinnere mich, dass ich mir die ersten Male fast die Eingeweide und das wenige, was sie enthielten, aus dem Leib gekotzt hätte. Dann aber habe ich mich daran gewöhnt, wie man sich eben an alles gewöhnt. Außerdem gibt es Schlimmeres als den Gestank von Scheiße. Gewalt hat oft gar keinen Geruch und zerfrisst Sinne, Herz und Seele doch auf ewig.
    Die beiden Aufseher, die mich begleiteten, stopften sich mit Schnaps getränkte Taschentücher in die Nasenlöcher und hielten mehrere Meter Abstand. Sie sprachen über Frauen und schmückten ihre Anekdoten mit obszönen Einzelheiten aus, über die sie so sehr lachen mussten, dass ihre Gesichter rot anliefen. Ich stieg in den Fluss hinab, kippte die Eimer aus und bestaunte die fröhlichen Fischlein, die mit ihren dünnen silbrigen Körpern zappelnd durch den bräunlichen Strudel schwammen und sich die Bäuche vollschlugen, ganz verrückt nach dem stinkenden Futter. Aber die schnelle Strömung spülte den Kot

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