Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
fort, und das Wasser war wieder klar. Ich sah die wogenden Algen und die Sonnenstrahlen, die sich auf der Wasseroberfläche brachen.
    Ab und zu, wenn die Aufseher vor Trunkenheit schläfrig wurden, ließen sie es zu, dass ich mich im Fluss wusch. Ich nahm einen runden Kieselstein als Ersatz für eine Seife und rieb ihn über meine Haut, um den Kot zu entfernen. Manchmal konnte ich sogar ein paar Fischlein fangen, die um mich herumschwammen und vielleicht auf eine weitere Ration warteten. Ich nahm sie zwischen zwei Finger, drückte fest zu, sodass ihre Därme herausgequetscht wurden, und steckte sie mir schnell in den Mund, damit die Aufseher mich nicht sahen. Denn es war uns bei Todesstrafe verboten, etwas anderes zu essen als die morgendlichen Kanten harten, sauren Brotes und die zwei Liter der stinkenden Wassersuppe, die man uns jeden Tag zuteilte. Ich kaute die Fische langsam, sie schmeckten köstlich.
    Damals roch ich immer nach Scheiße. Der Geruch ließ sich nicht mehr abwaschen. Deshalb hatte ich nachts immer genug Platz zum Schlafen, denn in meiner Nähe wollte niemand liegen. Es ist nun einmal das Wesen des Menschen, dass er sich am liebsten für einen reinen Geist, einen Schöpfer von Ideen, Gedanken, Träumen und Wundern hält und sich nur widerwillig daran erinnern lässt, dass er auch aus Materie besteht. Der Mensch will nicht hinnehmen, dass das, was hinten aus ihm herauskommt, genauso ein Teil seiner selbst ist wie die Vorgänge, die in seinem Hirn geschehen.
    Stern wischte seine Schale mit einem Stück Brot aus, dann lockte er mit einem kurzen Pfiff ein winziges Tier aus einer Ecke des Raumes hervor. Ein gezähmtes Frettchen, das ihm in der Einsamkeit Gesellschaft leistete, kam herbei und fraß ihm aus der Hand. Das Tier ließ sich den Bissen schmecken und sah mich von Zeit zu Zeit neugierig mit seinen runden, glänzenden Äuglein an, die an schwarze Perlen oder Maulbeeren erinnerten. Ich erzählte Stern von den Füchsen und berichtete ihm auch von meinen Besuchen bei Limmat und Mutter Pitz.
    Er erhob sich langsam, verschwand im hinteren Teil des Raumes, kam wieder hervor und legte einige schöne rote Felle auf den Tisch, die mit einer Schnur aus Hanf zusammengebunden waren.
    «Die kannst du noch zu deinen Füchsen dazuzählen, es sind dreizehn. Ich habe sie tot gefunden, sie lagen genau so da, wie du es beschrieben hast.»
    Stern nahm eine Pfeife und stopfte sie mit Tabak aus geschnittenen Kastanienblättern, während ich mit der Hand über die glänzenden, dichten Felle fuhr. Dann fragte ich ihn, was das wohl alles zu bedeuten hätte. Er zuckte die Achseln, zog an seiner Pfeife, die ein gurgelndes Geräusch von sich gab, und blies den aromatischen Rauch in meine Richtung, sodass ich husten musste.
    «Ich habe keine Ahnung, Brodeck, keine Ahnung. Ich kann ja nicht die Gedanken der Füchse lesen.»
    Er schwieg und streichelte sein Frettchen, das sich um seinen Arm wand und wohlige Geräusche machte.
    «Von den Füchsen weiß ich nichts», sprach er weiter, «aber ich erinnere mich daran, was Großvater Stern mir einmal über die Wölfe erzählt hat. Zu seinen Lebzeiten gab es nämlich noch welche hier. Wenn ich heute manchmal einen Wolf sehe, dann hat er sich aus einer fernen Gegend zu uns verirrt, oder es handelt sich nur um den Geist eines Wolfes. Der alte Stern aber hat einmal von einem Rudel erzählt, einem ziemlich großen Rudel mit mehr als zwanzig Tieren, wie er sagte. Es machte ihm Spaß, sie aufzuspüren und ihnen zu folgen, nur um sie zu ärgern. Aber dann, eines Tages, waren die Tiere verschwunden. Er glaubte, dass sie genug von seinen Neckereien hatten. Wahrscheinlich hatten sie sich einfach auf die andere Seite des Berges zurückgezogen. Der Winter kam und ging, ein schlimmer Winter mit viel Schnee, und es wurde wieder Frühling. Mein Großvater wanderte wieder durch die Wälder, und was fand er am Fuße der großen Felsen im Maulental? Die verwesenden Überreste des ganzen Wolfsrudels. Alle Tiere lagen da, vollzählig, die alten, die jungen und die Weibchen, alle, die Wirbelsäulen zerschmettert, die Schädel eingedrückt. Aber ein Wolf stürzt nicht einfach so den Felsen hinunter, vor allem nicht im Rudel. Ein einzelnes Tier vielleicht mal, das abrutscht. Aber doch kein ganzes Rudel.»
    Stern verstummte und sah mir in die Augen.
    «Willst du damit sagen, dass sie freiwillig in den Tod gegangen sind?», fragte ich.
    «Ich erzähle, was der alte Stern mir erzählt hat, das ist

Weitere Kostenlose Bücher