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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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zurückkehre …», sagte er oft zu mir. Umsonst ermahnte ich ihn, er habe es nur den Bewohnern seines Dorfs zu verdanken, dass er hier sein könne, sie verließen sich auf ihn – er machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
    «Nichts weiter als ein Haufen Säufer und Grobiane, das ist meine Heimat. Was glaubst du, warum sie mich hierher geschickt haben? Sie handeln nur im eigenen Interesse. Sie wollen, dass ich mit meinem ganzen Wissen nach Hause zurückkomme, wie ein gemästetes Stück Vieh, damit ich es ihnen zurückzahlen kann, mein Leben lang. Vergiss nicht, Brodeck, am Ende triumphieren immer die Dummen, nicht die Klugen.»
    Aber obwohl Ulli Rätte sich die Nase häufiger an den Fenstern der Kaffeehäuser platt drückte, als sie in Bücher zu stecken, war er alles andere als dumm. Manchmal sagte er Dinge, die auch in Büchern hätten stehen können, aber er sagte sie ganz beiläufig, als wollte er sich über sich selbst lustig machen. Dann ging er weiter, lachte sein meckerndes und zugleich melodiöses Lachen, sodass die Passanten sich umdrehten.

25
    Das mit den Dummen, die über die Klugen siegen, und dem Einzelnen, der sich in der Masse versteckt – das hat dazu geführt, dass ich die Stadt noch vor Beendigung meines Studiums verlassen musste. Es geschahen Dinge, die das Blut des Ungeheuers in Wallung brachten: Gerüchte aus nichtigem Anlass, ein paar Gespräche, ein nicht unterzeichneter knapper Zeitungsartikel, ein Straßenhändler, der Bosheiten verbreitete, ein Lied, dessen blutrünstigen Refrain plötzlich sämtliche Straßensänger nachsangen.
    Immer öfter kamen auf den Straßen Menschen zusammen. Männer blieben unter einer Straßenlaterne stehen, unterhielten sich, und bald kamen andere hinzu. Binnen weniger Minuten standen so etwa vierzig Gestalten Schulter an Schulter beieinander und lauschten zustimmend den Äußerungen eines nicht weiter bekannten Redners. Dann, wie durch einen Windstoß, zerstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen, und das blanke Straßenpflaster lag wieder leer da.
    Von der Ostgrenze her erreichten uns widersprüchliche Nachrichten. Es wurde behauptet, jenseits der Grenze hätten sich nachts ganze Garnisonen zum Aufmarsch bereit gemacht. Truppenbewegungen solchen Ausmaßes habe man noch nie gesehen. Weiterhin wurde behauptet, man höre den Lärm von Maschinen, die Stollen, Schützengräben und geheime Befestigungsanlagen ausheben. Armeen von teuflischer Größe und Schlagkraft würden ausgebildet und bereiteten sich auf den Einsatz vor, und in der Hauptstadt tummelten sich Agitatoren, die Feuer legen würden, sobald die Zeit reif wäre.
    Es gab nichts zu essen in dieser Zeit, und der Hunger machte die Leute nervös. In den beiden vorhergehenden Sommern hatte die Hitze auf den Feldern rings um die Stadt den größten Teil der Ernte verbrannt. Tag für Tag sah man Scharen verarmter, abgemagerter Bauern in die Stadt strömen, die mit verzweifelten Blicken alles so begierig anstarrten, als wollten sie es gleich mitnehmen. Kinder hielten sich an den Röcken ihrer Mütter fest, kleine, apathische Wesen mit gelben Gesichtern, die sich kaum auf den Beinen hielten und manchmal im Sitzen, an eine Wand gelehnt, oder auf den Knien ihrer erschöpften Mütter einschliefen, die auf dem Boden kauerten.
    Zu dieser Zeit hielt Professor Nösel eine Vorlesung über unsere großen Dichter, die vor vielen Jahrhunderten unsere aus unzähligen Versen bestehenden Epen gedichtet haben. Damals war die Hauptstadt nichts weiter als ein etwas größerer Marktflecken gewesen, Bären, Wolfsrudel, Auerochsen und Büffel lebten noch in unseren Wäldern, und fremde Horden aus weit entfernten Steppen mordeten und brandschatzten. Nösel sprach Altgriechisch, Latein, Arabisch, Aramäisch, Kasachisch und Russisch, aber er kam nicht auf die Idee, aus dem Fenster zu sehen oder, wenn er nach Hause in seine Wohnung in der Jeckenweiss-Straße ging, einmal den Blick aus seinem Buch zu heben und sich umzusehen. Er war ein Gelehrter, aber für die Welt war er blind.
    Dann fanden die ersten Aufmärsche statt. Kaum mehr als hundert Männer, die meisten waren verarmte Bauern und arbeitslose Arbeiter, brachen vom Markt auf dem Albergeplatz auf, wo sich in der Regel alle einfanden, die eine Tagelöhnerarbeit suchten. Sie hatten nichts bekommen, und so marschierten sie Parolen schreiend in Richtung Parlament. Dort stießen sie auf Soldaten, die vor den Toren Wache standen und denen es gelang, die Versammlung gewaltlos

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