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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Finsternis», war alles, was sie mir sagte, als ich sie eines Abends nach ihrer Familie und ihrem Heimatort fragte, und ich dachte an meine längst vergangene Kindheit, die zerstörten Häuser, die eingestürzten Mauern, die rauchenden Ruinen, die ich schemenhaft vor mir sah und von denen Fédorine mir erzählt hatte. Von da an liebte ich Emélia auch als Schwester, die wie ich aus dem Elend kam und wie ich nur nach vorne blicken konnte.
    Am Montagmorgen hörten wir Nösels Vorlesung im Medaillensaal. Ich habe nie erfahren, warum dieser schmucklose Raum mit der niedrigen Decke so genannt wurde, in dessen gewachsten Wänden wir verschwommen unsere Konturen erkennen konnten. Nösels Thema war die rhythmische Struktur des ersten Teils des Kantz Theus , des berühmten, uralten, jahrhundertelang mündlich überlieferten Epos unseres Vaterlandes. Nösel sah uns nicht an, während er sprach. Ich glaube, dass er eigentlich vor allem zu sich selbst sprach und überhaupt die meiste Zeit eine einseitige Unterhaltung führte, denn unsere Anwesenheit kümmerte ihn so wenig wie unsere Meinung. Während er leidenschaftlich über Blankverse und Hexameter dozierte, strich er sich Haar und Schnurrbart glatt, stopfte seine Pfeife, kratzte sorgfältig einige Flecken ab, die das Revers seines Jacketts sprenkelten, oder reinigte sich mit einem dünnen Taschenmesser die Fingernägel. Nur ein paar Studenten hörten ihm wirklich zu, die anderen dösten vor sich hin oder begutachteten die Risse in der Zimmerdecke. Nösel war gerade aufgestanden, um zwei Verse an die Tafel zu schreiben, die ich noch im Gedächtnis habe, weil die alte Sprache des Gedichts unserem Dialekt nicht unähnlich ist:
Stu pekart in dei mümerie gesachetet
Komm de Nebe un de Osterne vohin
 
Flüsternd werden sie kommen
Und im Nebel und der Erde versinken.
    Genau in diesem Moment wurde die Tür des Hörsaals so heftig aufgerissen, dass sie gegen die Wand krachte, und Lärm drang von draußen herein. Wir drehten uns alle gleichzeitig um und blickten in weit aufgerissene Augen: «Raus hier, raus hier! Rache für Ruppach! Nieder mit den Verrätern!», riefen sie und gestikulierten wie wild. Im Türrahmen standen nur drei oder vier Personen, wahrscheinlich Studenten, deren Gesichter uns bekannt vorkamen, aber hinter ihnen war das Grollen einer großen Menschenmenge zu hören. Dann verschwanden die Männer so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Aber die Tür blieb offen, und wie durch den Abfluss eines Spülsteins zog es fast alle meine Mitstudenten hinaus. Lautes Durcheinander, Tische und Bänke stürzten um, Geschrei und Flüche, und dann herrschte plötzlich wieder Ruhe. Die Truppe war weitergezogen, um ihre Botschaft von Hass und Gewalt in der Stadt zu verbreiten.
    Nur vier Studenten waren im Medaillensaal geblieben: Fritz Schoeffel, ein Dicker mit kurzen Armen, der kaum drei Treppenstufen hinaufkam, ohne nach Luft zu ringen; Julius Kakenegg, der nie ein Wort an einen Mitmenschen richtete und sich immer ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase hielt; Barthéleo Mietza, der stocktaub war, und schließlich ich. Und natürlich Nösel, der, während das alles geschah, mit der Kreide in der halberhobenen Hand gewartet hatte und dann seine Vorlesung fortsetzte, als ob nichts geschehen wäre.

26
    Ich hatte diesen merkwürdigen Tag in der Bibliothek verbracht. Dort fühlte ich mich sicher, ich wollte nicht nach draußen. Ich hörte schrecklichen Lärm und danach eine tiefe Stille, die nicht enden wollte und mir genauso viel Angst machte wie der Krach zuvor. Den ganzen Nachmittag lang habe ich die Bibliothek nicht verlassen. Emélia wusste ich in Sicherheit, sie war zu Hause, in dem möblierten Zimmer, das sie sich mit Gudrun Osterick teilte, einer anderen jungen Stickerin mit rotem Gesicht und wolligem Haar. Am Abend zuvor hatte ich Emélia das Versprechen abgenommen, dass sie den ganzen Tag lang keinen Fuß vor die Tür setzen würde.
    An das Buch, das ich während dieser seltsamen Stunden in der Bibliothek zu lesen versuchte, erinnere ich mich noch genau. Es war von einem Arzt, Dr.   Klaus Maria Messner, verfasst und handelte davon, wie sich die Pest im Laufe der Jahrhunderte ausgebreitet hatte. In dem Buch waren viele Graphiken und Tabellen mit Zahlen zu sehen, daneben aber standen erstaunliche Illustrationen, die einen Kontrast zu der kalten Wissenschaftlichkeit der Arbeit bildeten, denn sie waren auf eine makabre, manierierte Weise romantisch. Es gab ein Bild, das mir

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