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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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einen Fingerbreit öffnen ließ. Platz gab es nur für meinen Strohsack, den ich tagsüber zusammenlegte, um ein Brett darauf zu balancieren, sodass ich einen Schreibtisch hatte. Die Stadt war, außer an einigen strahlenden Tagen im Sommer oder sehr kalten Wintertagen, immer vom dichten Qualm der Kohlenfeuer eingenebelt, der in trägen, verschlungenen Rauchfahnen aus den Schornsteinen quoll, tagelang am Himmel stehenblieb und die Sonne nicht hindurchließ. Anfangs fand ich dieses Leben unerträglich, und ich musste immer nur an unser Dorf und das frisch duftende Tal denken, in das sich die Häuser schmiegten. Es geschah sogar, dass ich im Bett manchmal weinte.
    Die Universität war ein großes barockes Gebäude, das drei Jahrhunderte zuvor der Palast eines ungarischen Fürsten gewesen war, während der Revolution geplündert und schließlich an einen reichen Getreidehändler verkauft worden war, der es als Lagerhaus nutzte. Als 1831 die verheerende Choleraepidemie unerbittlich wütete, wurde das Gebäude beschlagnahmt und diente als öffentliches Hospital. Dort wurde mehr gestorben als geheilt. Erst viel später, am Ende des Jahrhunderts, entstand hier auf Befehl des Kaisers eine Universität. Die Schlafsäle wurden gereinigt und Bänke und Katheder aufgestellt. Aus dem Leichenschauraum wurde die Bibliothek und aus dem Seziersaal eine Art Salon, wo die Professoren und einige Studenten aus besseren Familien in breiten gelben Ledersesseln ihre Pfeifen rauchen, plaudern und Zeitung lesen konnten.
    Die meisten Studenten stammten aus bürgerlichen Verhältnissen. Ihre Wangen waren rosig, ihre Hände zart und ihre Fingernägel sauber. Seit ihrer Kindheit hatten sie immer genug zu essen bekommen und Kleider aus guten Stoffen getragen. Habenichtse wie mich gab es an der Universität nur ganz wenige. Man konnte uns schon von weitem an unseren wettergegerbten Wangen erkennen und an unserer Kleidung, unseren linkischen Manieren und unserer unübersehbaren Schüchternheit, da wir immer das Gefühl hatten, fehl am Platz zu sein. Wir kamen von weit her, nicht aus der Stadt oder aus der umliegenden Provinz. Wir schliefen in schlecht beheizten Dachzimmern und fuhren nie oder nur sehr selten nach Hause. Die anderen, die aus gutem Hause stammten und Geld hatten, nahmen kaum Notiz von uns. Dennoch glaube ich nicht, dass sie uns verachteten, sie konnten sich nur einfach nicht vorstellen, wer wir waren, woher wir kamen, in was für einsamen oder großartigen Landschaften wir aufgewachsen waren und wie wir unseren Alltag in der großen Stadt meisterten. Oft gingen sie an uns vorbei, ohne uns auch nur zu bemerken.
    Nach einiger Zeit hatte ich keine Angst mehr vor der Stadt. Ich versuchte, meine Furcht zu vergessen. Ich fand die Stadt zwar immer noch hässlich, aber diese Hässlichkeit machte mir nichts mehr aus, denn ich vergrub mich oft stundenlang in meine Bücher. Eigentlich verbrachte ich ganze Tage in der Bibliothek und verließ sie nur ab und zu, um die Vorlesungen der Professoren zu hören. Einen Freund hatte ich auch gefunden, Ulli Rätte, der in meinem Alter und genauso arm wie ich war. Auch ihn hatte sein Heimatdorf zum Studium in die Stadt geschickt, damit er nach seiner Rückkehr von Nutzen für alle sein würde. Rätte kam aus einer entlegenen Grenzregion, der hügeligen Gegend um Galinek, und sprach einen kehligen Dialekt, den kaum jemand verstand. Deshalb hielten ihn viele unserer Mitstudenten für sonderbar. Wenn wir nicht in der Bibliothek oder in unseren Studentenzimmern waren, machten wir lange Spaziergänge durch die Straßen, träumten und malten uns die Zukunft aus.
    Ulli hatte eine Leidenschaft für Cafés, aber ihm fehlte das Geld. Oft nahm er mich auf seine Besichtigungstouren mit, und der bloße Anblick dieser Cafés, in denen Kerzen brannten, wo die Frauen lachten und Rauchschwaden aus Zigarren und Pfeifen zur Decke aufstiegen, wo elegant angezogene Männer im Winter Pelzmäntel und im Sommer Seidenschals trugen, wo Kellner in tadellos weißen Schürzen aussahen wie die Soldaten einer friedfertigen Armee – dieser Anblick erfüllte uns mit kindlicher Freude.
    «Mit den Büchern verlieren wir doch nur unsere Zeit, Brodeck, das hier ist das wahre Leben!»
    Anders als ich war Ulli in der Stadt ganz in seinem Element. Er kannte sämtliche Straßen und Abkürzungen, er mochte den Staub, den Lärm, den Ruß, die Brutalität und Unüberschaubarkeit der Stadt. Alles gefiel ihm.
    «Ich glaube nicht, dass ich ins Dorf

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