Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
aufzulösen. Ulli und ich hatten sie auf unserem Weg zur Universität vorbeiziehen sehen. Es schien zunächst fast so, als veranstalteten ein paar Männer einen feuchtfröhlichen Festumzug, wie es manchmal Studenten taten, die ihren Studienabschluss feierten. Aber an den fahlen, angespannten Gesichtern und den Augen, in denen das dumpfe Vorurteil glomm, sah man, dass diese Männer keine Studenten waren.
    «Die werden bald die Nase voll haben», rief Rätte spöttisch und zog mich am Arm zu einem neuen Café, das er tags zuvor entdeckt hatte und mir zeigen wollte. Ich drehte mich noch ein paarmal nach den Männern um und sah, wie der Tross sich durch die Straße wand – eine dicke Schlange, deren Kopf ich mir riesig vorstellte.
    Das Schauspiel wiederholte sich tags darauf und an den sechs folgenden Tagen, und jedes Mal waren es mehr Männer, und ihr Murren wurde immer lauter. Frauen, vielleicht die Ehefrauen der Bauern und Arbeiter, gingen jetzt mit, und auch äußerst zwielichtige Gestalten, die man bisher hier nicht gesehen hatte. Sie waren wie die Viehhüter, nur dass sie ihre Herde weder mit Knüppeln noch mit Peitschen antrieben, sondern mit Worten und Rufen. Täglich gab es Verletzte, wenn die Soldaten den Demonstranten wahllos mit dem flachen Säbel auf den Kopf schlugen. In den Zeitungen wurde über diese Massenaufmärsche viel berichtet, aber die Regierung schwieg seltsamerweise. Am Freitagabend dann wurde ein Soldat schwer verletzt, als ein Pflasterstein ihn traf. Einige Stunden darauf wurde in der ganzen Stadt eine Warnung plakatiert: Jede Versammlung sei bis auf Weiteres verboten und Demonstrationen würden unverzüglich aufgelöst.
    Das Pulverfass ging hoch, als wieder einen Tag später im Morgengrauen neben der Ysertinger-Kirche der aufgedunsene Leichnam von Wighert Ruppach gefunden wurde. Ruppach war ein arbeitsloser Schriftsetzer gewesen, von dem es hieß, er sei als einer der Ersten bei den Aufmärschen dabei gewesen. Er war für seine revolutionären Ansichten bekannt, und es war unbestritten, dass viele Leute sein bärtiges Mondgesicht an der Spitze eines Trupps gesehen hatten, das lautstark Brot und Arbeit gefordert hatte. Die Polizei fand schnell heraus, dass er mit einem Knüppel totgeschlagen und zum letzten Mal gesehen worden war, als er reichlich blau aus einer der Spelunken im Schlachthof-Viertel torkelte, wo Rotwein und geschmuggelter Alkohol ausgeschenkt wurden. Dass er keine Papiere, keine Uhr und keinen Pfennig mehr in der Tasche hatte, deutete auf einen Raubmord hin. Aber der Unmut in der Bevölkerung wuchs, und niemand glaubte mehr der Polizei. Innerhalb weniger Stunden war aus Ruppach ein Märtyrer geworden, das Opfer einer unfähigen Staatsgewalt, die ihre Kinder nicht ernähren und ihr Volk nicht schützen konnte vor der fremden Macht, die an der Grenze unbehelligt aufrüstete. Ruppach sei von einem Fremden umgebracht worden, davon war man überzeugt. Die Wahrheit spielte keine Rolle mehr, niemand interessierte sich dafür. Die Bombe war gelegt, nun würde nur ein Funken sie hochgehen lassen.
    Am Montag geschah es dann, nachdem am Sonntag die Stadt sich geleert hatte. Sie lag menschenleer und verlassen da, als wäre sie von einer unbekannten Epidemie heimgesucht worden. Tags zuvor waren Emélia und ich noch spazieren gegangen und hatten so getan, als würden wir nicht bemerken, dass sich etwas zusammenbraute, was keiner von uns je erlebt hatte.
    Wir kannten uns seit fünf Wochen. Mir hatte sich eine neue Welt aufgetan, denn plötzlich war mir bewusst geworden, dass mein Leben noch einem anderen Rhythmus gehorchen konnte als meinem eigenen und dass es keinen schöneren Klang gibt als das zarte Pochen in der Brust eines geliebten Menschen. Wir gingen immer um dieselben Plätze und durch dieselben Straßen spazieren und legten so, ohne dass wir uns abgesprochen hätten, den Pilgerweg unserer frischen Liebe fest. Wir gingen am Stüpispiel-Theater vorbei, dann über den Under-de-Bogel-Boulevard zur Elsi-Promenade, zum Musikpavillon und zur Eislaufbahn. Emélia bat mich, ihr von meinem Studium, den Büchern, die ich gerade las, und dem Land, aus dem ich kam, zu erzählen. «Wie gerne würde ich dich einmal dort besuchen», sagte sie.
    Sie war ein Jahr zuvor in die Stadt gekommen und hatte nichts mitgebracht als ihre geschickten Hände, mit denen sie zarte Stickereien, komplizierte Muster und hauchdünne Spitzen herstellte. «Ich habe nur Finsternis hinter mir gelassen, nichts als

Weitere Kostenlose Bücher