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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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lieb,
Träumt Ihr, was ich träume?
Schöner Prinz so lieb,
Ihr mit mir immerdar zusammen.
    Emélia tanzt in meinem Arm. Im Januar, unter laublosen Bäumen, wie viele andere Paare, die trunken vor Jugend durch das goldene dunstige Licht der Laternen im Park schwebten, zur Musik des kleinen Orchesters im Pavillon, wo die Musiker spielten, eingehüllt in riesige Fellmäntel, sodass sie aussahen wie fremdartige Tiere. Es war der Augenblick vor unserem ersten Kuss. Die kurzen schwindelnden Minuten, die einem ersten Kuss vorangehen. Das alles geschah vor dem Chaos. Und da war dieses Lied, das wir hörten, als wir uns zum ersten Mal küssten, gesungen in einer alten, verlorenen Sprache. Das Liebeslied, das eine so bittere Geschichte erzählt, das Lied eines Abends und eines Lebens, Schöner Prinz so lieb/Zu weit fortgegangen . Dieses Lied sang Emélia jetzt immer vor sich hin, es war wie ein Gefängnis, in das sie all ihre Gedanken eingesperrt hatte.
    Ich drückte sie an mich und küsste ihr Haar und ihren Nacken. Ich flüsterte ihr ins Ohr, dass ich sie liebe und immer lieben werde, dass ich für sie da sei, ganz nah bei ihr. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und sah in ihren Augen ein abwesendes Lächeln. Tränen liefen ihr über die Wangen.

24
    Zurück im Dorf, empfing mich wieder die fröhliche Festtagsstimmung. Männer und Frauen kamen auf dem Dorfplatz zusammen, bald standen sie dicht gedrängt.
    Seit langem schon gehe ich Menschenansammlungen aus dem Weg. Ich meide sie, als könnte ich mir dort eine ansteckende Krankheit holen. Ich habe Angst vor ihnen, denn sie sind an fast allem schuld. Das Böse, der Krieg, die Kazerskwir – dazu sind sie fähig, wenn sie wissen, dass sie nicht allein sind, dass sie sich in der unüberschaubaren Masse verstecken können. Die vielen tausend Gesichter, die sich gleichen. Man kann leicht behaupten, die Schuld liege bei demjenigen, der sie aufbringt und anstachelt und ihnen Befehle erteilt, man kann sagen, die Massen wissen nicht, was sie tun. Aber das stimmt nicht. In Wahrheit ist die Masse ein Ungeheuer mit einem riesigen Leib, bestehend aus vielen einzelnen Wesen. Und ich weiß auch, dass es keine glücklichen und friedlichen Massen gibt. Selbst wenn sie lachen und Lieder singen, selbst dann sind sie gefährlich, denn das Blut rast dem Ungeheuer in den Adern und gerät leicht in Wallung. Es hatte ja Anzeichen gegeben, schon lange vorher, schon zu Zeiten meines Studiums in der Hauptstadt, wohin sie mich damals schickten. Die Idee stammte von Limmat, und er hatte den damaligen Bürgermeister Sibelius Craspach sowie Pfarrer Peiper dafür gewonnen. Sie waren alle drei der Meinung, es wäre für das Dorf von Nutzen, wenn zumindest einer der jungen Männer eine gute Ausbildung bekommen würde, wenn er sich ein bisschen in der Welt umsähe, bevor er nach Hause zurückkäme und hier Lehrer, Landarzt oder der Nachfolger von Rechtsanwalt Knopf würde, der merklich senil wurde und mit seinen Ratschlägen und Ansichten bereits mehr als einen Klienten in arges Erstaunen versetzt hatte. Und ich sollte diese Ausbildung bekommen.
    In gewisser Weise kann man sagen, dass das ganze Dorf mich in die Hauptstadt geschickt hat. Zwar war es die Idee der drei genannten Männer gewesen, aber alle haben mich in dem Vorhaben darin bestärkt und unterstützt. Zu jedem Monatsende ging der Zungfrost eine Glocke schwenkend von Tür zu Tür und rief: «Für Brodecks Studium.» Jeder gab, soviel er konnte und wollte. Das mochte ein bisschen Geld sein, aber auch ein Wollmantel, eine Mütze, ein Taschentuch, ein Glas Marmelade, eine kleine Tüte Linsen – Lebensmittel für Fédorine, denn während meiner Abwesenheit würde ich nicht für sie sorgen können. So erhielt ich aus dem Dorf von Zeit zu Zeit Zahlungsanweisungen über kleinere Beträge oder merkwürdige Pakete, die meine Wirtin Fra Haiternitz, völlig außer Puste, nachdem sie die sechs Stockwerke hatte hinaufsteigen müssen, mir mit misstrauischem Blick übergab, wobei sie unablässig auf ihrem schwarzen Tabak herumkaute, von dem ihre Lippen dunkel wurden und ihr Atem faulig roch.
    Anfangs hatte das Treiben in der Hauptstadt mir Kopfschmerzen bereitet. Noch nie hatte ich solchen Lärm gehört. Die Straßen waren wie entfesselte Wildbäche, die unzählige Menschen und Wagen mitrissen. Der Krach war ohrenbetäubend, sodass mir schwindelig wurde und ich oft in Hauseingängen Schutz suchte. Ich wohnte in einem Zimmer, dessen rostiges Fenster sich nur

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