Brodecks Bericht (German Edition)
– bald hierhin, bald dorthin huschten sie und verweilten nirgendwo. Schweigend ging Emélia immer weiter. Wohl weil ihr die Luft knapp wurde, sang sie nicht wie sonst. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ich hielt ihre Hand und spürte ihre Wärme, sie aber schien nichts zu merken und hatte vielleicht auch vergessen, wie sehr sie dieser Mann, der neben ihr ging, liebte.
Bei der Hütte angekommen, ließ ich Emélia auf der Bank an der Tür Platz nehmen, setzte Poupchette neben sie und sagte ihr, sie solle schön brav sein, während ich meine Aufzeichnungen mache. Es werde nicht lange dauern, und danach würden wir den Kartoffel-Nuss-Kuchen essen, den die alte Fédorine in ein weißes Geschirrtuch eingeschlagen und uns mitgegeben hatte.
Dann begann ich, mir Notizen zu machen. Ich fand die Vermessungspunkte im Gelände wieder, von denen ich jedes Jahr ausging, große Steine, mit denen man früher Einfriedungen und Grenzmauern markiert hatte. Nur mit Mühe jedoch konnte ich den Sandsteintrog wiederfinden, der ziemlich genau in der Mitte der Weidefläche stand. Er war in einen Felsblock gehauen, und als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, der Trog sei ein gestrandetes Schiff, ein Schiff der Götter.
Schließlich entdeckte ich ihn. Um ihn herum war der Tümpel innerhalb eines Jahres auf unerklärliche Weise dreimal so groß geworden. Der Stein lag ganz unter Wasser. Der massive Trog glich nun nicht mehr einem Schiff – er sah aus wie ein primitiver, schwerer Sarg ohne Leichnam, und bei diesem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken.
Rasch wandte ich meinen Blick ab und hielt nach Poupchette und Emélia Ausschau. Aber ich konnte sie nicht sehen, nur die Mauerreste der Hütte, denn die beiden saßen auf der anderen Seite. Sie sind verschwunden, dachte ich plötzlich. Ich ließ meine Messinstrumente am Ufer des Tümpels fallen, rannte wie ein Verrückter zur Hütte und schrie ihre Namen, ganz irre vor Angst. Es war nur ein kurzer Weg zur Hütte, aber ich hatte das Gefühl, als könnte ich nie mehr dorthin gelangen. Der Boden unter meinen Füßen war rutschig. Ich blieb in feuchten Erd- und Wasserlöchern stecken, der Modder schien mich festhalten zu wollen und gab klagende Laute von sich. Endlich bei der Hütte angelangt, war ich außer Atem. Meine Hände, die Hose und die genagelten Schuhe waren mit Matsch beschmiert, der nach Bucheckern, Erde und nassem Gras roch. Ich brachte nicht einmal die Namen der beiden heraus. Aber dann sah ich sie. Eine kleine Hand tastete um die Mauerecke, griff nach einem Hahnenfuß, brach den Stängel ab und griff nach der nächsten Blume. Meine Furcht verflog so schnell, wie sie gekommen war. Poupchettes Gesicht tauchte auf. Sie sah mich erstaunt an: «Schmutzig, Papa, ganz schmutzig, mein Papa!» Sie lachte, und ich lachte mit. Ich lachte laut, und ich war glücklich, allem Geschehenen zum Trotz, all jenen zum Trotz, die mich hatten zum Schweigen bringen und zu Asche verbrennen wollen.
Stolz hielt Poupchette den Blumenstrauß aus Hahnenfuß, Gänseblümchen und Vergissmeinnicht in der Hand, den sie für ihre Mutter gepflückt hatte. Die Blumen zitterten noch vor lauter Leben, weil sie noch nicht gemerkt hatten, dass sie bereits gestorben waren.
Emélia war ein Stück von der Hütte fort zum Rand der Weide gegangen und auf einem Felsvorsprung stehengeblieben, unter dem ein steiniger Hang steil abfällt. Ihr Gesicht hatte sie den weiten, fremden Tälern zugekehrt, die verschwommen unter Nebelfetzen schlummerten. Sie hob die Arme ein wenig zu beiden Seiten, fast als wollte sie sich zum Abflug bereitmachen, und ihre zarte, anmutige Silhouette hob sich vor dem bläulichen blassen Hintergrund ab. Poupchette rannte zu ihr und umarmte mit ihren kurzen Ärmchen das Bein ihrer Mutter.
Emélia bewegte sich nicht. Der Wind hatte ihre Haare gelöst, und sie wehten in der Luft. Langsam ging ich auf sie zu. Ich konnte ihren Duft schon wahrnehmen, und ich hörte das Lied, das sie nun wieder sang. Endlich hatte Poupchette Emélias Arm zu fassen bekommen und legte ihr den Blumenstrauß in die Hand. Da flog eine Blume nach der anderen durch die Finger davon, und Emélia versuchte nicht, sie festzuhalten. Poupchette rannte hierhin und dorthin und fing sie wieder ein, während ich weiter langsam auf Emélia zuging.
Schöner Prinz so lieb,
Zu weit fortgegangen.
Schöner Prinz so lieb,
Nacht um Nacht ohn’ Eure Lippen.
Schöner Prinz so lieb,
Tag um Tag ohn’ Euch zu erblicken.
Schöner Prinz so
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