Brodecks Bericht (German Edition)
dir ein Beispiel an ihr nehmen. Sei bescheiden und bitte nur um das, was du auch bekommen kannst und was dir nützen kann, denn alles andere ist zwecklos. Wozu willst du vom Thema abschweifen, einer fixen Idee nachgehen? Und das alles für nichts! Ich will dir eins sagen: An dem Abend, als du eingewilligt hast, den Bericht zu schreiben, hast du gesagt, du würdest ich sagen, aber uns alle damit meinen. Du erinnerst dich doch? Na, dann geh doch einfach davon aus, dass wir alle gemeinsam diese Rede erdacht und aufgeschrieben haben. Ich habe sie vielleicht gehalten, aber wir alle zusammen haben sie geschrieben. Gib dich damit zufrieden. Noch ein Glas, Brodeck?»
Hausorn zog eine Grimasse, als ich ihm später im Rathaus den Zettel zeigte. Er wollte etwas sagen, besann sich aber. Er kehrte mir den Rücken zu, zog zwei große Schubladen auf, hob mehrere Kladden an und nahm schließlich einen braunen Ordner zur Hand, in den mehrere Dutzend Seiten unterschiedlicher Größe eingelegt waren. Rasch blätterte er sie durch, zog schließlich die Rede heraus und gab sie mir. Ich nahm die Seiten und wollte sie in die Tasche stecken, aber er hielt mich zurück:
«Der Bürgermeister gibt Anweisung, dass du die Rede lesen darfst, aber du darfst sie nicht mitnehmen! Du kannst sie hier abschreiben.»
Mit einem Kopfnicken deutete Hausorn auf einen Tisch und einen Stuhl. Dann rückte er die Brille auf seiner Nase zurecht, ging zu seinem Pult und nahm seine Schreibarbeit wieder auf. Ich setzte mich hin und schrieb die Rede sorgfältig ab, Wort für Wort. Manchmal sah Hausorn zu mir herüber. Seine Brillengläser waren so dick, dass seine Augen dahinter übertrieben groß, wie Taubeneier, aussahen. Deshalb erinnerte er, trotz des feingeschnittenen Gesichts, das den Frauen immer ausnehmend gut gefallen hatte, an ein übergroßes Insekt, mit einem Fliegenkopf und dem Körper eines Mannes. «Liebe Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, liebe Gäste aus den umliegenden Gemeinden, lieber Herr, es ist uns eine große Freude, Sie hier bei uns begrüßen zu dürfen.»
Ich muss noch eines erwähnen, bevor ich Orschwirs Rede nun wiedergebe, die er an jenem Tag auf der Bühne hielt, an jenem milden Abend, als das schreckliche Ereignis noch in weiter Ferne lag. Der Bürgermeister war sehr verwirrt, als er ganz zu Anfang nach den Worten «Lieber Herr …» seine Rede unterbrach, den Anderen ansah und erwartete, dass er an dieser Stelle seinen Namen nennen würde, den wir ja gar nicht kannten. Aber der Andere schwieg, lächelte und machte den Mund nicht auf, sodass der Bürgermeister schließlich einfach weitersprach, nachdem er noch mehrmals in fragendem Ton «Herr … Herr …?» gesagt hatte.
«Sie sind der erste und bisher einzige Reisende, der zu uns gekommen ist, seit der Krieg hier viele quälende Monate lang gewütet hat. In früheren Jahrhunderten kamen immer viele Reisende durch unsere Gegend, die von den weiten Ebenen im Süden über unsere Berge weit hinauf in den Norden und zu den Hafenstädten unterwegs waren. Hier fanden sie einen angenehmen und günstig gelegenen Rastplatz, und tatsächlich taucht unser Dorf in alten Chroniken unter dem früheren Namen Gute Rast auf. Wir wissen nicht, ob Sie das gleiche Ziel haben. Aber wie dem auch sei, Sie erweisen uns eine große Ehre, wenn Sie sich in unserem bescheidenen Ort aufhalten. Sie bringen uns den Frühling nach einem langen Winter, und wir hoffen, dass nach Ihnen noch viele Menschen zu Besuch kommen werden und wir auf diese Weise wieder ein Stück näher an die Welt rücken. Wir bitten Sie, lieber Herr …» – hier hielt Orschwir wieder inne und sah den Anderen an, doch der schwieg, und so räusperte sich Orschwir und sprach weiter –, «Wir bitten Sie, seien Sie gnädig in Ihrem Urteil. Wir haben viel durchgemacht, und wir leben wahrlich am Rande der Zivilisation. Dennoch sind wir denen, die uns wirklich kennenlernen, treuer, als es zunächst den Anschein hat. Wir haben Leid und Tod erfahren und müssen das Leben neu beginnen. Und wir müssen auch lernen, die Vergangenheit nicht zu vergessen, aber doch für immer zu bannen, sodass wir endlich in der Gegenwart leben und in die Zukunft blicken können. Im Namen aller, im Namen unseres ganzen Dorfes, das zu vertreten ich die Ehre habe, heiße ich Sie, lieber Herr, willkommen und übergebe Ihnen hiermit das Wort.»
Orschwir sah auf die Menge hinunter, faltete die Seiten wieder zusammen und drückte dem Anderen die Hand, während der
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