Brodecks Bericht (German Edition)
schwermachte, endlich einmal auszusprechen, viel drängender gewesen, als ich mir selbst eingestanden hatte. Hätte ich mich vielleicht dem Pfarrer Peiper anvertraut, wenn er sich selbst treu geblieben und nicht im Krieg zu einer besoffenen Vogelscheuche geworden wäre? Wieder bin ich mir nicht ganz sicher.
Das Lächeln des Anderen war nicht von dieser Welt, denn er selbst war nicht von dieser Welt. Er war nicht Teil unserer Geschichte, er gehörte zu keiner Geschichte, er war aus dem Nichts aufgetaucht, und heute, da keine Spur mehr von ihm geblieben ist, scheint es, als ob es ihn nie gegeben hätte. Wem, wenn nicht ihm, hätte ich alles erzählen können? Ich habe ihm erzählt, wie es war, als ich verschleppt wurde und Emélia hinter mir auf dem Boden lag, weinte und schrie. Ich habe ihm auch erzählt, dass Frippman gute Laune hatte und dass er nicht verstand, was mit uns geschehen würde, welches Schicksal uns ereilen würde.
Noch am selben Abend brachte man uns aus dem Dorf. An den Händen waren wir mit einem langen Strick gefesselt, wir gingen nebeneinander, bewacht von zwei berittenen Soldaten. Auf dem vier Tage dauernden Marsch gaben unsere Wachen uns nur Wasser und die Reste ihrer Mahlzeiten. Aber Frippman ließ sich davon nicht entmutigen. Er erzählte mir immer wieder die gleichen Geschichten, belehrte mich über die beste Zeit der Aussaat, sprach über die Form des Mondes und die Katzen, die ihm, wie er behauptete, auf der Straße hinterherliefen. Das alles in seinem üblichen Kauderwelsch, einer Mischung aus unserem Dialekt und der alten Sprache. Erst in diesen Tagen, die ich in seiner Gesellschaft verbrachte, wurde mir klar, dass er tatsächlich geistig beschränkt war – vorher hatte ich ihn immer für ein bisschen schrullig gehalten. Alles bewunderte er: die Pferde, auf denen unsere Wachen ritten, die gewichsten Stiefel, die in der Sonne funkelnden Uniformknöpfe. Die beiden Soldaten behandelten uns nicht schlecht. Sie zogen uns hinter sich her wie Gepäckstücke, sprachen nicht mit uns, aber sie schlugen uns auch nicht.
Endlich langten wir im halbzerstörten S. an, wo der Schutt auf den Straßen lag und ein unbeschreibliches Drunter und Drüber herrschte. Eine Woche lang wurden wir im Bahnhof zusammengepfercht, zusammen mit anderen Männern, mit Frauen, ganze Familien, mit armen Menschen und solchen, die noch die Symbole ihres Reichtums mit sich herumtrugen und ihre Leidensgenossen von oben herab behandelten. Es waren viele hundert, lauter Fremde . Man nannte uns jetzt übrigens nur noch bei diesem Namen, und so riefen auch die Soldaten nach uns. Wir waren keine einzelnen Menschen mehr, wir trugen alle denselben Namen, der eigentlich keiner war, und es wurde verlangt, dass wir auf ihn hörten. Was uns erwartete, wussten wir nicht. Frippman blieb immer in meiner Nähe. Manchmal klammerte er sich lange mit beiden Händen an meinem Arm fest, wie ein Kind, das sich fürchtet. Ich ließ ihn gewähren. Wenn einem etwas Unbekanntes, Schreckliches bevorsteht, ist man besser zu zweit. Eines Morgens wurden wir in zwei Kolonnen aufgeteilt. Frippman kam in die linke und ich in die rechte.
«Auf Wiedersehen, Brodeck! Bis bald, im Dorf!», rief Frippman mir freudestrahlend zu, während seine Kolonne sich in Marsch setzte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und winkte ihm nur kurz zu, damit er nichts von dem Grauen ahnte, das uns, das wusste ich bereits, erwartete. Mit Stockschlägen trieb man uns darauf zu, ihn zuerst und dann mich. Er drehte sich um und ging pfeifend und mit zügigen Schritten davon.
Ich habe Frippman nie mehr gesehen. Er ist nicht ins Dorf zurückgekehrt. Der Straßenwärter Baerenburg hat seinen Namen in das Denkmal gemeißelt und musste ihn, anders als meinen, nicht wieder tilgen.
Emélia und Fédorine blieben allein im Haus zurück. Das ganze Dorf mied sie, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätten. Nur Diodème kümmerte sich, wie gesagt, um sie, weil er mein Freund war und weil er sich schämte. Aber immerhin hat er sich um sie gekümmert.
Bei Emélia wurden kaum mehr Aussteuern, Deckchen, Vorhänge und Taschentücher in Auftrag gegeben. Aber auch wenn sie keine Stickarbeiten mehr hatte, blieb sie nicht untätig. Man musste schließlich essen und das Haus heizen. Früher hatte ich ihr gezeigt, welche Schösslinge, Baumrinden, Beeren, Pilze, Kräuter und Wildsalate in den Wäldern und auf den Hochweiden für die Menschen genießbar sind. Fédorine brachte ihr bei, wie man
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