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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Vögel mit Vogelleim und einer Schnur fängt, wie man Schlingen für Kaninchen legt und Eichhörnchen von den Bäumen herunterlockt und mit einem Stein erschlägt. Sie mussten nicht hungern.
    Jeden Tag notierte Emélia einige Sätze für mich in ein kleines Heft, das ich nach meiner Rückkehr gefunden habe. Einfache, zärtliche Worte, die von mir, von ihr, von uns beiden erzählten, als könnte ich jeden Moment wiederkommen. Sie schrieb auf, wie sie ihre Tage verbrachte, und begann immer mit den gleichen Worten: «Mein kleiner Brodeck …» Sie schrieb ganz ohne Bitterkeit. Die Fratergekeime erwähnte sie sicher absichtlich mit keinem Wort. Auf diese schöne Art leugnete sie deren Existenz. Ich habe das Heft noch und lese häufig darin. Es ist ein langer, bewegender Bericht über die Tage meiner Abwesenheit. Die Worte bringen Licht in meine Dunkelheit. Ich will die Worte für mich behalten, für mich allein, denn das war Emélias Stimme, bevor sie in der Nacht verschwand.
    Orschwir kam nie zu Besuch. Aber einmal ließ er ihnen ein halbes Schwein liefern, das sie eines Morgens vor ihrer Haustür fanden. Peiper kam ein paarmal, aber Fédorine fand es unerträglich, wenn er stundenlang am Ofen sitzen blieb, die Flasche Pflaumengeist austrank, die sie für ihn aus dem Schrank geholt hatte, und immer verworrener daherredete. Eines Abends jagte sie ihn sogar mit dem Besen zur Tür hinaus.
    Adolf Buller und seine Truppe hielten immer noch das Dorf besetzt. Eine Woche nachdem man Frippman und mich verhaftet hatte, erlaubte er endlich, dass Cathor beerdigt wurde. Beckenfür, der Mann seiner Schwester, war sein einziger Verwandter, also musste er sich darum kümmern. «Was für eine Sauerei, Brodeck … Kein schöner Anblick … Sein Kopf war doppelt so groß wie früher, schwarze aufgeplatzte Haut und sein Körper, mein Gott, sprechen wir nicht davon …»
    Abgesehen davon, dass sie Cathor hingerichtet und uns verschleppt hatten, betrugen die Fratergekeime sich gegenüber der Bevölkerung denkbar korrekt, sodass die beiden Vorkommnisse schnell in Vergessenheit gerieten. Die Leute allerdings taten auch alles dafür, um sie schnellstmöglich zu vergessen. Zu dieser Zeit kehrte Göbbler mit seiner dicken Frau ins Dorf zurück. Er bezog wieder das Haus, das er fünfzehn Jahre zuvor verlassen hatte, und wurde vom ganzen Dorf mit offenen Armen empfangen, vor allem von Orschwir, der mit ihm zusammen bei der Armee gewesen war.
    Ich könnte schwören, dass Göbbler Schuld daran hatte, dass die Stimmung im Dorf langsam kippte. Er redete den Leuten ein, es sei doch ein Glück, dass ausgerechnet diese Kompanie das Dorf besetzte. Sie seien nicht feindselig, sondern garantierten ganz im Gegenteil Frieden und Sicherheit und sorgten dafür, dass das Dorf und das Umland von Massakern verschont werde. Allerdings kostete es ihn keine große Mühe, sie alle davon zu überzeugen, dass es in ihrem Interesse sei, wenn Buller und seine Männer so lange wie möglich im Dorf blieben. Hundert Männer wollen essen, trinken und rauchen, sie lassen ihre Wäsche waschen und ausbessern und bringen eine ganze Menge Geld in Umlauf.
    Mit dem Einverständnis des ganzen Dorfes und Orschwirs Segen wurde Göbbler eine Art zweiter Bürgermeister. Häufig sah man ihn jetzt im Zelt von Buller, der nach anfänglichem Misstrauen schnell verstand, wie nützlich ihm dieser Mann ohne Rückgrat sein konnte, der seine Nähe suchte, und behandelte ihn von da an fast wie einen Vertrauten. Und seine Frau Bulla machte für die ganze Truppe, die Offiziere und die einfachen Soldaten, die Beine breit.
    «Wir hatten uns eben an die Besatzung gewöhnt», hatte Schloss mir bei dem bewussten Gespräch gesagt, als er sich so betrübt an meinen Tisch setzte. «Ihre Anwesenheit war selbstverständlich geworden. Schließlich waren sie doch Menschen wie wir, aus dem gleichen Holz geschnitzt. Wir beschäftigten uns mit den gleichen Dingen und sprachen fast dieselbe Sprache. Am Ende duzten wir uns sogar beinahe mit allen. Viele Soldaten halfen den alten Leuten oder spielten mit den Kindern. Jeden Morgen fegten zehn Soldaten die Straßen, andere pflegten die Wege, hackten Holz, trugen die Misthaufen ab. Das Dorf war noch nie so sauber gewesen! Was soll ich sagen? Wenn sie in mein Gasthaus kamen, reichte ich ihnen etwas zu trinken und spuckte ihnen nicht ins Gesicht! Und außerdem, glaubst du denn, die Leute wollten so enden wie Cathor oder einfach vom Erdboden verschwinden wie du und

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