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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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alles einmal zu erzählen – diesem seltsamen Unbekannten mit der komischen Aufmachung, hier, in diesem Raum, der gar nicht mehr aussah wie ein Hotelzimmer.
    Was danach geschah, erzählte ich dem Anderen in wenigen Worten. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Buller und seine Leute lösten das Lager auf. Auf dem Marktplatz herrschte fiebrige Betriebsamkeit, wie sie in einer Herde entsteht, wenn ein Gewitter naht. Befehle wurden geschrien, Flaschen in einem Zug geleert und auf dem Boden zerschmettert, fluchende Männer torkelten herum, und das alles vor Bullers Augen, dessen Kopf immer schneller ruckte. Stocksteif stand er unter dem Vordach seines Zeltes. Es war ein Moment der Auflösung, die Fratergekeime hatten noch die Macht, aber sie wussten bereits, dass sie ihnen entgleiten würde. Sie waren gefallene Götter, Herrenmenschen, die schon ahnten, dass man ihnen bald ihre Waffen und Rüstungen wegnehmen würde. Sie wussten, dass sie verloren hatten.
    Da plötzlich traten die drei Mädchen und Emélia in Erscheinung. Neben ihnen gingen die Männer aus dem Dorf und die beiden Soldaten. Im Nu wurden die Frauen von den anderen wie von Raubtieren umringt und beschnuppert. Der Kreis zog sich immer enger um sie zusammen, und die besoffenen Männer lachten und schubsten die Frauen zu der Scheune hinüber, beleidigten sie und machten sich in groben Scherzen über sie lustig. Die Scheune gehört Otto Mischenbaum, einem fast hundert Jahre alten Bauern, der keine Nachkommen gezeugt hatte – hab keine Zeit dafür gehabt, sagte er immer – und seinen Lebensabend einsam in seiner Küche hocken blieb.
    Sie verschwanden in der Scheune.
    Sie waren nicht mehr zu sehen.
    Und dann nichts mehr.
    Tags darauf lag der Platz verlassen da, überall Glasscherben und Abfall. Die Fratergekeime waren fort. Von ihnen war nur der Geruch nach saurem Wein und ausgekotztem Schnaps geblieben sowie die großen Bierpfützen. Am Morgen nach dieser Nacht, in der die Soldaten und einige Männer aus dem Dorf, von Buller geduldet, die Seelen und Körper der Frauen geschändet hatten, blieben die Türen sämtlicher Häuser fest verschlossen. Noch traute sich keiner nach draußen. Fédorine hämmerte an all diese Türen, sie hämmerte und hämmerte. Bis sie endlich bei der Scheune war.
    «Ich bin hineingegangen, Brodeck.» Jetzt erzählt die alte Fédorine und füttert mich dabei mit einem Löffel. Meine Hände sind wund. Meine Lippen, meine zerschlagenen Zähne schmerzen und schneiden mir ins Zahnfleisch. Ich bin gerade erst nach Hause zurückgekehrt, nachdem ich fast zwei Jahre außerhalb der Welt zugebracht habe. Ich bin dem Lager entronnen, über Straßen und Wege gewandert und bin wieder da. Aber noch bin ich halb tot und schwach. Vor einigen Tagen habe ich die Tür meines Hauses geöffnet. Ich sah Fédorine. Sie ließ, als sie mich bemerkte, den großen Keramikteller fallen, den sie gerade abtrocknete. Die Scherben mit dem roten Blumenmuster stoben in alle vier Ecken des Raumes. Ich sah Emélia. Sie war schöner denn je, ja, wirklich noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich sah Emélia, die am Ofen saß und mich nicht ansah, sie reagierte nicht auf das laute Klirren, nicht auf meine Stimme, die sie rief, nicht auf meine Hand, die ich ihr auf die Schulter legte. Sie sang immer weiter ihr Lied vor sich hin, und mein Magen zog sich zusammen: Schöner Prinz so lieb, zu weit fortgegangen . Es war das Lied unserer jungen Liebe. Und als ich freudig wieder und wieder ihren Namen sagte, als ich ihr über Wange und Haar streichelte, da merkte ich, dass ihre Augen mich nicht wahrnahmen, und ich verstand, dass sie mich nicht hörte, verstand, dass Emélia mit ihrem wunderschönen Gesicht zwar hier vor mir saß, ihre Seele aber an einen anderen Ort gezogen war. Ich wusste nicht, wohin, aber ich würde, das schwor ich mir, den Weg dorthin finden und sie mit nach Hause nehmen. Da hörte ich eine zarte Stimme, die ich nicht kannte, eine leise Kinderstimme, die aus unserem Schlafzimmer kam. Sie plapperte, wie ein fröhlicher, wilder Wasserfall. Es war ein lustiges Lallen, das der Sprache der Engel ganz ähnlich sein muss.
    «Ich bin in die Scheune hineingegangen, Brodeck, ja, das habe ich getan. Ich bin hineingegangen. Es war totenstill und dunkel. Auf dem Boden lagen die Mädchen, kleine, reglose Körper, dicht aneinandergedrängt. Ich habe mich neben sie gekniet. Ich habe schon zu viele Tote gesehen. Da lagen die drei Mädchen, sie waren noch so jung, keine

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