Brodecks Bericht (German Edition)
Müns, illustriert mit Hunderten kolorierten Stichen. In sämtlichen Bibliotheken der Hauptstadt hatte ich vergeblich danach gesucht. Angeblich gab es nur vier Exemplare davon. Es wurde zu horrenden Preisen gehandelt, und viele reiche Gelehrte hätten ein Vermögen ausgegeben, um es in ihren Besitz zu bringen. Der wissenschaftliche Wert war unschätzbar, weil es die ganze Blumenwelt der Berge auflistete, sogar die seltensten und seltsamsten Arten, die längst ausgestorben waren.
Offenbar bemerkte der Andere meine Freude, die ich ja auch nicht vor ihm zu verbergen suchte.
«Bitte sehr, sehen Sie es sich nur an, bitte, bitte …»
Also nahm ich das Buch, einem Kind gleich, dem man ein wunderbares Spielzeug in die Hand gibt, und begann, darin zu blättern.
Ich hatte das Gefühl, als ob ich einen Schatz gefunden hätte. Die Tabellen des Bruder Sturens waren außerordentlich genau, und die Anmerkungen zu jeder Blume, jeder Pflanze gaben nicht nur das gesamte damals bekannte Wissen wieder, sondern enthielten auch noch viele weitere Details, die nirgendwo anders zu finden waren.
Das Erstaunlichste an dem Werk aber war die Genauigkeit sowie die außerordentliche Schönheit der Abbildungen, die den Kommentar begleiteten. Mutter Pitz’ Herbarien stellten für mich eine kostbare Quelle dar, die mir oft half, meine Berichte zu vervollständigen oder Fehler zu berichtigen. Aber die Blumen, die ich darin fand, hatten ihre Farbe und ihre Anmut eingebüßt. Man musste Phantasie und Gedächtnis bemühen, damit diese entschlafene, vertrocknete Welt wieder zu dem wurde, was sie einst gewesen war, lebendig, geschmeidig und farbenfroh. Hier aber, in diesem Liber florae , bekam man den Eindruck, jemandem mit diabolischem Talent und von außergewöhnlicher Intelligenz sei es gelungen, die Wahrheit der Blumen zu erfassen. Durch die verstörende Genauigkeit der Zeichenstriche und Schattierungen sah es aus, als wären sie erst vor wenigen Sekunden gepflückt worden: Märzenbecher, Frauenschuh, Tüpfel-Enzian, Faltenstirniger Eisenhut, Huflattich, Feuerlilie, Straußglockenblume, Sichelblättrige Wolfsmilch, Echte Edelraute, Schneefrauenmantel, Schachblume, Gold-Fingerkraut, Weiße Silberwurz, Scharfer Mauerpfeffer, Schwarzchristwurzel, Mannsschild und Troddelblume.
Den Anderen hatte ich ganz vergessen. Ich hatte auch vergessen, wo ich mich befand. Aber plötzlich hörte das Schwindelgefühl auf. Ich hatte umgeblättert, und da erschien vor meinen Augen, zart wie Marienfäden und winzig, mit fransigen, blassrosa geränderten Blütenblättern, die wie kleine, aufmerksame Hände schützend die kronenförmig angeordneten goldgelben Staubgefäße umschlossen: der Schluchtenenzian.
Wahrscheinlich habe ich tatsächlich einen kurzen Schrei ausgestoßen. Da, in diesem alten, prächtigen Buch auf meinen Knien, war das Bild dieser Blume, und so war bewiesen, dass es sie wirklich gab. Ich sah das Gesicht des Studenten Kelmar vor mir. Es war, als blickte er mir über die Schulter. Kelmar, der mir so viel von dieser Blume erzählt und mir das Versprechen abgenommen hatte, sie zu finden.
«Interessant, nicht wahr?»
Die Stimme des Anderen riss mich aus meinen Gedanken.
«Diese Blume suche ich schon so lange …», hörte ich mich antworten, mit einer Stimme, die mir ganz fremd vorkam.
Mit seinem feinen Lächeln sah der Andere mich an, ein Lächeln, das typisch für ihn war und das nicht von dieser Welt schien. Er trank seine Teetasse aus, setzte sie ab und sagte dann, beinahe beiläufig:
«Nicht immer gibt es die Dinge wirklich, die man in Büchern findet. Manchmal lügen die Bücher, meinen Sie nicht auch?»
«Ich lese kaum mehr.»
Zwischen uns entstand ein Moment des Schweigens, das keiner unterbrechen wollte. Ich hatte das Buch zugeschlagen und drückte es noch immer an mich. Ich dachte an Kelmar, dachte an den Waggon, sah wieder vor mir, wie es gewesen war, als wir aus dem Waggon herauskamen. Ich hörte die Schreie unserer Leidensgenossen, die Schreie der Aufseher und das Kläffen der Hunde. Und dann sah ich Emélias schönes stummes Gesicht und ihren Mund, der das ewig gleiche Lied sang. Ich spürte den gütigen Blick des Anderen , und da geschah es, ganz von allein. Ich fing an, ihm von Emélia zu erzählen. Warum habe ich ihm von ihr erzählt? Warum habe ich diesem Mann, den ich überhaupt nicht kannte, von Dingen erzählt, die ich niemandem sonst anvertraut hatte? Wahrscheinlich war dieses Bedürfnis, alles, was mir das Herz
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