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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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klein. Ich wusste, dass Emélia und Poupchette nur wenige Meter von mir entfernt schliefen. Meine Emélia und meine süße Poupchette.
    Plötzlich muss ich an den Anderen denken. Ihm hatte ich die Geschichte erzählt.
    Das war zwei Wochen nachdem ich ihn am Lingen-Stein getroffen hatte, wo er die Landschaft betrachtete und zeichnete. Ich kehrte gerade von einer langen Wanderung zurück, auf der ich die Wege überprüft hatte, die von einer Hochweide zur anderen führen. Früh am Morgen war ich aufgebrochen und weit gewandert. Ich war hungrig und durstig und froh, wieder im Dorf zu sein. Da lief ich ihm über den Weg, er kam gerade aus Solzners Stall, wo er seinem Esel und seinem Pferd einen Besuch abgestattet hatte. Wir grüßten uns, und ich war schon an ihm vorbeigegangen, als ich ihn sagen hörte:
    «Würden Sie heute vielleicht meine Einladung annehmen, die ich vor einiger Zeit ausgesprochen habe?»
    Ich wollte ihm schon antworten, ich sei zu müde und wolle schnell nach Hause zu meiner Frau und meiner Tochter, aber als ich sah, wie er freundlich lächelnd auf meine Antwort wartete, da sagte ich auch schon das Gegenteil. Er schien sich zu freuen und lud mich ein, ihn zu begleiten.
    Als wir das Gasthaus betraten, wischte Schloss gerade den Boden. Kein Gast war da. Der Wirt wollte mich schon fragen, was ich wünsche, besann sich aber anders, als er sah, dass ich in Begleitung des Anderen gekommen war, hinter dem ich die Treppe hinaufstieg. Er stützte sich auf seinen Schrubber und musterte mich eigenartig, dann nahm er, als wäre er wütend, den Henkel des Eimers und schüttete was noch an Wasser darin war, ungeduldig über den Holzboden.
    Im Zimmer des Anderen roch es stark nach Weihrauch und Rosenwasser. In einer Ecke sah ich seine geöffneten Koffer. Viele Bücher in Einbänden mit Goldprägung waren darin zu sehen und dazwischen Stoffe, Seide, Samt, Brokat, Gaze, von denen er einige auch über den farblosen, rissigen Putz an die Wände gehängt hatte, was dem Raum etwas Orientalisches gab, wie ein Nomadenlager. Neben den Koffern standen zwei große Zeichenmappen, die viele Bögen enthalten mussten, so ausgebeult, wie sie aussahen. Aber sie waren sorgfältig verschnürt. Auf dem kleinen Tisch, der ihm auch als Schreibtisch diente, lagen alte, kolorierte Landkarten ausgebreitet, die, wie ich sehen konnte, nicht unsere Gegend abbildeten, sondern mir unbekannte Gebirgszüge und Flussläufe. Daneben erkannte ich außerdem einen großen kupfernen Kompass, ein Fernrohr, einen Zirkel und ein weiteres Messinstrument, das an einen winzigen Theodoliten erinnerte, sowie sein kleines Notizbuch.
    Der Andere bot mir den einzigen Sessel an, den es in seinem Zimmer gab und den er zunächst von einem Stapel Bücher, anscheinend Bände eines Lexikons, frei räumen musste. Dann entnahm er einer Schatulle aus Ebenholz zwei zerbrechliche Teetassen, bemalt mit knienden Prinzessinnen und Kriegern, die aussahen wie Chinesen oder Hindus, und stellte sie auf die passenden Untertassen. Auf dem Nachttisch stand ein großer versilberter Samowar, dessen Ausguss an einen Schwanenhals erinnerte. Der Andere nahm den Samowar, goss kochendes Wasser in die Tassen und gab dann einige schwarzbraune getrocknete Blätter hinein, die sich anmutig wie Blüten entfalteten, einen Augenblick auf der Wasseroberfläche trieben und dann langsam auf den Boden der Tasse sanken. Ich bestaunte das Schauspiel wie einen Zaubertrick, und da merkte ich, dass mein Gastgeber mich belustigt beobachtet hatte.
    «Kleiner Aufwand, große Wirkung … Schon mit einfacheren Tricks kann man ganze Völker zum Narren halten», sagte er und reichte mir eine der Tassen. Dann setzte er sich mir gegenüber auf den Schreibtischstuhl, der so klein war, dass sein dickes Hinterteil gar nicht darauf zu passen schien. Er hob die Tasse zum Mund, blies vorsichtig hinein und trank mit offensichtlichem Behagen mehrere kleine Schlucke. Dann setzte er die Tasse wieder ab, stand auf, wühlte in einem der großen Koffer und kam mit einem Folio-Band zurück, dessen abgegriffener Buchdeckel davon zeugte, dass er oft gelesen worden war. Von all den goldschimmernden und glitzernden Büchern, die ich in dem Koffer erkennen konnte, war dies übrigens das unscheinbarste. Der Andere reichte es mir.
    «Sehen Sie es nur an, ich bin sicher, dass es Sie interessiert.»
    Ich schlug das Buch auf und traute meinen Augen nicht. Dies war das Liber florae montanarum des Bruders Abigaël Sturens, gedruckt 1702 in

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