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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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zu Vurtenhaus Bauernhof gehörte. Frippman war tüchtig. Am Tage half er mal diesem und mal jenem, bei der Heuernte, beim Pflügen, Melken und Holzhacken und wurde anscheinend nie müde. Man bezahlte ihn in Naturalien, er beklagte sich nie und pfiff Melodien, die wir nicht kannten. Man nahm ihn auf, und er passte sich ohne Schwierigkeiten an.
    Simon Frippman und ich waren also die Fremden , das Gesindel. Wir waren die Schmetterlinge, die in guten Zeiten toleriert und in schlechten geopfert werden. Erstaunlich ist aber doch, dass die Männer einerseits entschieden, uns Buller auszuliefern – uns also in den Tod zu schicken, denn das mussten sie wissen! Dass sie aber andererseits darin übereinkamen, Fédorine und Emélia verschonen zu wollen, obwohl sie ebenfalls fremde Schmetterlinge waren. Ich weiß nicht, ob man es wirklich als mutig bezeichnen kann, dass sie den beiden Frauen das Leben schenkten. Ich glaube eher, die Männer haben so gehandelt, weil sie sich so ihre Tat besser vergeben konnten. Die Männer, die uns denunzierten, verschonten Emélia und Fédorine, weil sie sich dann einreden konnten, doch keine Unmenschen zu sein. So würden sie ihr schändliches Verhalten wenn schon nicht vergessen, aber doch zumindest mit der Erinnerung weiterleben können.
    Kurz vor Mitternacht traten die Soldaten die Tür unseres Hauses ein. Wenige Minuten davor waren die Männer, die sich im Gasthaus getroffen hatten, zum Hauptmann Buller gegangen und hatten ihm die beiden Namen genannt. Auch Diodème war dabei gewesen. Er habe geweint, schreibt er in seinem Brief. Vielleicht weinte er, aber er war dabei.
    Noch bevor ich mir darüber klar werden konnte, was geschah, standen die Soldaten schon in unserem Schlafzimmer. Sie packten mich an den Armen und schleppten mich nach draußen, Emélia schrie, klammerte sich an mir fest und schlug mit ihren kleinen Fäusten auf die Männer ein. Die Soldaten beachteten sie gar nicht. Über Fédorines alte Wangen liefen Tränen. Ich fühlte mich, als wäre ich wieder jener kleine, verlassene Junge, und ich wusste, dass Fédorine das Gleiche dachte. Schon waren wir auf der Straße. Ich sah Simon Frippman, der dort stand, die Arme auf dem Rücken gefesselt. Er lächelte und wünschte mir, als ob nichts wäre, einen guten Abend und sagte, es sei ziemlich kühl geworden. Emélia wollte mich umarmen, aber man stieß sie weg, und sie stürzte zu Boden.
    «Du kommst zurück, Brodeck! Du kommst zurück!», schrie sie, und die Soldaten lachten dröhnend.

32
    Ich hasse Diodème nicht und nehme ihm sein Verhalten nicht übel. Während ich seinen Brief las, stellte ich mir vor, wie er selbst gelitten haben muss. Ich dachte weniger an mein eigenes Leid. Ich habe dank des Briefs auch manches verstanden, etwa, warum er sich während meiner Abwesenheit so rührend um Fédorine und Emélia gekümmert hat, warum er sie jeden Tag besuchte und ihnen half und warum seine Fürsorge noch rührender wurde, nachdem Emélia verstummt war. Und ich habe auch verstanden, warum er, als ich aus dem Lager zurückkam, mich erst sprachlos ansah und dann vor Glück schrie, mich umarmte, mit mir tanzte und mich lachend immer wieder herumwirbelte, bis mir schwindelig wurde. Ich war zurück, und er durfte endlich wieder leben.
    «Brodeck, mein ganzes Leben lang habe ich versucht, ein Mann zu sein, aber es ist mir nicht immer gelungen. Nicht Gottes Vergebung suche ich, sondern ich will, dass Du mir vergibst. Du wirst diesen Brief finden. Ich weiß, dass Du den Schreibtisch, in dem ich ihn verstecke, behalten wirst, wenn ich diese Welt verlassen habe. Ich weiß es, weil Du so oft von diesem Schreibtisch sprichst, ein Schreibtisch, an dem man, sagst Du immer, sicher gut schreiben könne, denn ich schreibe ja so viel. Früher oder später wirst Du also den Brief finden und wirst alles erfahren. Alles. Du wirst auch erfahren, was mit Emélia geschehen ist. Ich habe Nachforschungen angestellt. Das war ich Dir schuldig. Jetzt weiß ich, wer die Täter waren. Es waren nicht nur Soldaten, auch Leute aus dem Dorf sind dabei gewesen. Ihre Namen stehen auf der Rückseite dieses Blattes. Jeder Irrtum ist ausgeschlossen. Und vergib mir, Brodeck, vergib mir, ich bitte Dich …»
    Das Ende des Briefes habe ich mehrmals gelesen, stolperte immer über die letzten Worte und brachte nicht fertig, was Diodème mir vorschlug. Ich konnte das Blatt nicht umdrehen und die Namen lesen. Namen von Männern, die ich sicher kannte, unser Dorf ist ja so

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