Brodecks Bericht (German Edition)
Frippman?»
Fast zehn Monate blieben die Fratergekeime im Dorf, und bis zum Ende hatte es keine besonderen Vorfälle gegeben. Aber während der letzten Wochen schlug die Stimmung um. Später erfuhr man den Grund dafür. Die Fronten verschoben sich, eine Niederlage drohte. So wie der beißende Rauch eines Frühlingsfeuers vom Wind von einem Moment zum nächsten in eine andere Richtung getrieben wird, so schlug der Sieg sich nun auf die andere Seite. Natürlich wusste im Dorf niemand davon. Solange man sie im Unklaren ließ, so lange waren sie nicht gefährlich. Aber Buller selbst wusste Bescheid. Und mit Vergnügen stelle ich mir sein Gesicht vor, das immer heftiger zuckte, je mehr Briefe ihn erreichten, in denen von Flucht, Zusammenbruch und dem Untergang jenes Großreiches die Rede war, dessen Macht sich über die ganze Welt erstrecken und viele tausend Jahre hatte währen sollen.
Wie treue Hunde spürten die Soldaten die Sorge ihres Befehlshabers und wurden auch immer nervöser. Die Masken fielen. Vor Diodèmes Augen wurde der Metzger Brochiert verprügelt, weil er einen Gefreiten mit seiner Vorliebe für Innereien aufgezogen hatte. Limmat, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, zwei vorübergehende Soldaten zu grüßen, wurde rüde angerempelt und verdankte es nur Göbbler, der zufällig vorbeikam, dass er nicht auch noch Stockschläge bezog. Mehrere solcher Vorfälle gaben den Dorfbewohnern zu verstehen, dass das Ungeheuer aus seinem kurzen Schlaf erwachte. Also hielt auch die Angst wieder Einzug und mit ihr zusammen der Wunsch, sie zu bannen.
Ausgerechnet an dem Tag bevor sich die Kompanie aus dem Dorf zurückziehen sollte, entdeckten einige Bewohner des Dorfes, die nachmittags mit dem Schlitten Holz aus dem Borensfall-Wald holen wollten, an der Lichmal-Lichtung unter einer Höhle aus Tannenzweigen drei junge Mädchen, die sich völlig verängstigt aneinanderdrängten. Sie trugen Kleider, die nicht so aussahen wie die Kleidung unserer Bauersmädchen, sie hatten keine Holzpantinen an den Füßen und keine Schnürstiefel, sondern ganz andere, elegante Schuhe. Bei sich hatten sie einen kleinen Koffer und kamen offensichtlich von weit her. Wahrscheinlich waren sie schon mehrere Wochen auf der Flucht und waren, Gott weiß warum, ausgerechnet in diesen Wald geraten, in diese fremde Welt.
Die Bewohner des Dorfes gaben ihnen Essen und Trinken, und die Mädchen stürzten sich darauf, als ob sie seit Tagen nichts bekommen hätten. Dann folgten sie ihnen vertrauensselig ins Dorf. Diodème schreibt, dass die Männer zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, was sie mit den Mädchen vorhatten. Ich möchte es gerne glauben. Aber auf jeden Fall müssen sie gewusst haben, dass es sich bei ihnen ebenfalls um Fremde handelte und dass jeder Schritt, den sie auf das Dorf zugingen, sie ihrem unabwendbaren Schicksal näher brachte. Göbbler war, wie gesagt, ein wichtiger Mann geworden, der einzige, den Hauptmann Buller akzeptierte. Zu ihm brachten die Männer die drei Mädchen. Plötzlich hatte heftiger Regen eingesetzt, und die drei warteten vor dem Haus, während Göbbler die Männer davon überzeugte, dass die Mädchen den Fratergekeime ausgeliefert werden mussten. Das würde die Soldaten gnädig stimmen und umgänglicher machen.
Wie oft entscheidet sich das Schicksal in einem einzigen Moment! Immer wieder habe ich mir gesagt, dass Emélia vielleicht nie aus dem Fenster gesehen hätte, wenn es nicht so stark geregnet hätte. Aber der Regen prasselte auf die Schindeln herunter, und wäre es anders gewesen, hätte Emélia vielleicht die drei durchnässten, zitternden, mageren Mädchen nicht gesehen. Sie wäre nicht zu ihnen hinausgegangen und hätte sie nicht ins Warme gebeten. Sie wäre also nicht bei ihnen gewesen, als die beiden Soldaten kamen, um sie abzuholen. Sie hätte nicht Göbbler ins Gesicht geschrien, er sei ein Ungeheuer, und sie hätte ihn auch nicht geohrfeigt. Die Soldaten hätten sie nicht überwältigt und mit den drei anderen abgeführt. Sie hätte nie in den tiefen, dunklen Abgrund der menschlichen Seele gesehen.
Regen, es war nur der Regen, der auf die Dachziegel und gegen die Scheiben prasselte.
Der Andere hörte mir zu, goss ab und zu etwas heißes Wasser in seine Tasse und gab einige Teeblätter hinein. Beim Sprechen hielt ich das alte Liber florae montanarum im Arm wie einen anderen Menschen. Das gütige Schweigen des Anderen und sein Lächeln ermutigten mich, weiterzusprechen. Es tat mir wohl, dies
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