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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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zwanzig Jahre alt, mit weit aufgerissenen Augen. Ich habe ihnen die Lider zugedrückt. Und da lag auch Emélia. Sie atmete noch, wenn auch ganz schwach. Sie hatten gedacht, sie sei tot, aber sie wollte noch nicht sterben, Brodeck, sie wollte nicht, weil sie wusste, dass du eines Tages zurückkehren würdest, sie hat es gewusst, Brodeck … Ich ging zu ihr und legte ihr Gesicht an meinen Bauch, und da begann sie dieses Lied zu singen, und seitdem hat sie nicht mehr damit aufgehört … Ich wiegte sie, wiegte sie lange …»
    Der Samowar war leer. Ich legte das Liber florae vorsichtig neben mich. Draußen war es jetzt fast dunkel. Der Andere hatte das Fenster einen Spalt geöffnet. Der Duft von warmem Harz und Humus strömte ins Zimmer. Ich hatte lange gesprochen, wahrscheinlich stundenlang, aber er hatte mich nicht unterbrochen. Ich wollte mich schon dafür entschuldigen, dass ich ihm mein Herz ausgeschüttet hatte, da ertönte hinter mir ein Glockenspiel. Es kam aus einer merkwürdigen Wanduhr, nicht viel größer als eine Taschenuhr, wie sie früher in Kutschen hingen. Bis zu diesem Moment war sie mir nicht aufgefallen. Die dünnen goldenen Zeiger zeigten acht Uhr. Das Gehäuse war aus Ebenholz und Gold und die Ziffern, vor einem elfenbeinfarbenen Grund, waren aus blauem Email. Unter die Achse der Zeiger hatte der Uhrmacher, Benedikt Fürstenfelder, dessen Name am unteren Rand des Rahmens eingraviert war, in geneigter und verschlungener Schrift einen Sinnspruch geschrieben: Alle verwunden, eine tödtet .
    Während ich aufstand, sagte ich nachdenklich diesen Spruch. Auch der Andere hatte sich erhoben. Ich hatte viel geredet, vielleicht zu viel. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Es tue mir leid, er solle nicht glauben, dass … Um mich zu unterbrechen, hob er schnell seine kurzfingrige Hand, die aussah wie die Hand einer molligen Frau:
    «Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen», sagte er fast unhörbar und hauchend, «ich weiß, dass Erzählen eine gute Medizin ist.»

33
    Ich weiß nicht, ob der Andere recht hatte.
    Ich weiß nicht, ob gewisse Krankheiten überhaupt heilbar sind. Vielleicht ist Erzählen doch keine so wirksame Medizin. Vielleicht bleiben so die Wunden offen, ähnlich wie Glut sich jederzeit zum Feuer entfachen kann.
    Selbstverständlich habe ich Diodèmes Brief verbrannt. Bei ihm hatte das Erzählen keine einzige Wunde geheilt. Und wozu hätte ich die Namen der Dorfbewohner erfahren sollen, die er auf der Rückseite des letzten Blattes notiert hatte? Es wäre zu nichts nütze gewesen. Ich bin nicht rachsüchtig. Irgendwie werde ich immer Hund Brodeck bleiben, ein Wesen, das lieber im Staub liegt als beißt. Und vielleicht ist das besser so.
    An jenem Abend habe ich auf dem Nachhauseweg einen langen Umweg gemacht. Die Nacht war warm, und am immer dunkler werdenden Himmel stachen die Sterne wie silberne Nägel aus der Schwärze der Nacht. Es gibt Tageszeiten, da ist alles unerträglich schön auf der Erde, und diese Schönheit ist vielleicht nur deshalb so grenzenlos, weil sie uns bewusstmacht, wie hässlich unser Leben ist. Ich bin ans Ufer des Staubi gegangen, an die Stelle oberhalb der Baptisterbrücke, dahin, wo eine Gruppe Kopfweiden steht, die Baerensburg in jedem Januar unbarmherzig zurechtstutzt. Dort liegen die drei Mädchen begraben. Ich weiß es, weil Diodème es mir erzählt hat. Er hat mir sogar genau gezeigt, wo. Kein Grab, kein Kreuz, nichts ist zu sehen. Ich aber weiß, dass unter dem Gras die drei Mädchen Marisa, Therne und Judith liegen. Namen sind wichtig, und die Mädchen heißen so, weil ich sie so genannt habe. Denn die Dorfbewohner haben die Mädchen nicht nur ermordet – sie haben alles, was ihnen gehörte, gründlich verschwinden lassen. Deshalb weiß niemand, wie sie hießen, woher sie kamen und wer sie wirklich waren.
    Wunderschön ist der Staubi an dieser Stelle. Das klare Wasser fließt in einem Bett aus grauen Kieselsteinen. Er murmelt, rauscht und klingt fast wie eine menschliche Stimme. Seine zarte Melodie singt er für die Wanderer, die ein Ohr dafür haben und sich eine Weile im Ufergras niederlassen.
    Der Andere kam häufig hierher, setzte sich ins Gras, schrieb und zeichnete etwas in sein kleines Heft. Sicher glaubten einige Männer, die ihn ausgerechnet dort sitzen sahen, dass er sich nicht zufällig an dieser Stelle, neben den stummen Gräbern der Mädchen, aufhielt. Und wahrscheinlich war das ein Grund, warum die Dorfbewohner mit der Zeit und ohne dass

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