Brodecks Bericht (German Edition)
der Andere etwas davon ahnte, seinen Tod beschlossen. Niemals darf man das Grauen wieder aus der Erinnerung ausgraben, sonst erwacht es zu neuem Leben.
Auch Diodème hat nicht weit von dieser Stelle den Tod gefunden. Was für ein merkwürdiger Ausdruck, wenn man es recht bedenkt: den Tod finden , aber ich glaube, dass er in diesem Fall zutrifft. Man muss etwas suchen, um es zu finden, und ich glaube, dass Diodème den Tod gesucht hat.
Seit ich den Brief gelesen habe, bin ich endgültig davon überzeugt, dass die Männer ihn nicht wie den Anderen ermordet haben. Nein, jetzt weiß ich, wie es war.
Ich weiß, dass Diodème am Abend aus seiner Wohnung trat und das Dorf hinter sich ließ. Ich weiß, dass er zum Ufer des Staubi und weiter flussaufwärts ging und auf diesem Weg gleichsam die Erinnerungen an sein vergangenes Leben abschritt. Er dachte an unsere langen Spaziergänge, unsere Gespräche, unsere Freundschaft. Er hatte soeben seinen Brief an mich beendet, er ging am Fluss entlang und dachte an alles, was er aufgeschrieben hatte. Als er an den Kopfweiden vorbeikam, dachte er an die Mädchen, er ging weiter und versuchte, die Geister zu vertreiben, versuchte sicher ein letztes Mal, mit mir zu sprechen, ja, sicher sagte er meinen Namen, stieg dann die Tizenthal-Felsen hinauf, und dieser kurze Aufstieg tat ihm gut, denn je höher er kam, desto leichter fühlte er sich. Auf dem Gipfel betrachtete er die Dächer des Dorfes, das Spiegelbild des Mondes auf dem Fluss, betrachtete noch ein letztes Mal sein Leben und spürte, wie der Nachtwind ihm über Bart und Haar strich. Er schloss die Augen und ließ sich fallen. Er stürzte lange, und vielleicht dauert sein Sturz noch an, wo auch immer er sich jetzt befindet.
Diodème war am Abend des Ereignisses nicht im Gasthaus. Er war zusammen mit Alfred Wurzwiller, dem Briefträger mit der Hasenscharte, nach S. gegangen, um für Orschwir einige wichtige Schriftstücke abzuliefern. Ich glaube, dass der Bürgermeister ihn absichtlich fortgeschickt hat. Als er drei Tage später zurückkam, wollte ich ihm alles erzählen, aber er schnitt mir das Wort ab:
«Ich will nichts davon hören, Brodeck, behalt es für dich. Du bist dir ja auch gar nicht sicher, vielleicht ist er einfach abgereist, ohne es irgendwem zu sagen, vielleicht hat er seinen Hut gehoben und gegrüßt und ist gegangen, wie er gekommen ist, du hast nichts gesehen, das hast du doch selbst gesagt! Hat er denn überhaupt existiert, dein Anderer ?»
Mir blieb die Luft weg.
«Aber Diodème, du kannst doch nicht …»
«Schweig, Brodeck, und sag mir nicht, was ich zu tun habe. Lass mich in Ruhe. In diesem Dorf ist schon genug Unglück geschehen!»
Dann ging er eilig fort und ließ mich an der Ecke der Silkegasse stehen. Ich nehme an, dass Diodème an diesem Abend seinen Brief an mich begonnen hat. Er ertrug den Tod des Anderen nicht.
Ich habe die Schreibtischschublade repariert. Ich glaube, ich habe gute Arbeit geleistet. Danach habe ich den Tisch mit Bienenwachs poliert. Er riecht gut und glänzt im Kerzenlicht. Und ich sitze wieder da und schreibe. Im Schuppen ist es kalt, aber die Blätter bewahren noch lange die Wärme von Emélias Bauch. Dort verstecke ich diese vielen Wörter. Denn ich wasche Emélia jeden Morgen, ziehe sie an und kleide sie abends wieder aus. Morgens, nachdem ich fast die ganze Nacht lang geschrieben habe, stecke ich die Blätter in eine Stofftasche aus feinem Leinen und binde sie ihr unter dem Hemd um den Bauch. Und abends, wenn ich sie ins Bett bringe, nehme ich die warme, nach ihrem Körper duftende Tasche wieder an mich.
Ich sage mir, dass Poupchette in Emélias Bauch herangewachsen ist und dass auch die Geschichte, die ich schreibe, in gewisser Weise aus ihrem Bauch kommt.
Den Bericht, auf den die anderen warten, habe ich fast abgeschlossen. Eigentlich fehlt nur noch wenig. Aber ich will ihn nicht überreichen, bevor ich nicht auch meine Geschichte zu Ende geschrieben habe. Ich muss noch ein paar Teile zusammensetzen. Ein paar Türen muss ich noch öffnen. Aber nicht jetzt, nicht sofort.
Denn zuvor sollte ich noch einmal auf die Tage zu sprechen kommen, die dem Ereignis vorangingen. Man stelle sich eine Bogensehne vor, die immer weiter gespannt wird. Dieses Bild muss man vor Augen haben, wenn man wissen möchte, was in den Wochen vor dem Ereignis geschah. Es war, als spannte das ganze Dorf sich wie ein Bogen, und niemand wusste, welches Ziel der Pfeil treffen würde.
Es war
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