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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Menschen. Es waren natürlich nur Männer da, die aber zum Teil von ihren neugierigen Frauen geschickt worden waren. Schloss hatte alle Mühe, mit dem Bedienen nachzukommen, so viele Hände reckten ihm leergetrunkene Gläser hin.
    «Jetzt sag doch mal was, Schloss, was soll dieser Zirkus?»
    Schulter an Schulter tranken sie Wein, Schnaps und Bier. Draußen brannte bereits die Sonne. Man drängte sich aneinander und lauschte.
    «Ist er jetzt völlig durchgedreht, dein Gast?»
    «Was führt er denn im Schilde?»
    «Will er uns auf den Arm nehmen?»
    «Erzähl doch, Schloss, mach schon!»
    «Wird der komische Vogel noch lange hierbleiben?»
    «Was glaubt er denn, wo er ist, der mit seinen weibischen Kärtchen?»
    «Hält er uns für Musensöhne?»
    «Was sind denn Musensöhne?»
    «Weiß ich doch nicht, das hab doch nicht ich gesagt!»
    «Verflixt nochmal, Schloss, sag doch endlich was!»
    Die Fragen prasselten nur so auf Schloss nieder. Aber Schloss blieb ungerührt, er lächelte nur leicht spöttisch. Er sagte nichts und ließ die Spannung steigen. Das alles war gut fürs Geschäft. Reden macht durstig.
    «Verdammt nochmal, du willst doch nicht den ganzen Tag so stumm bleiben!»
    «Ist er oben?»
    «Platz da!»
    «Mach schon, Schloss!»
    «Achtung, er will was sagen, haltet den Mund, jetzt ist Schloss dran!»
    Man hielt die Luft an. Die wenigen Männer, die nichts mitbekommen hatten und weitertuschelten, wurden schnell zur Ordnung gerufen. Alle Blicke, einige schon reichlich trüb, wandten sich dem Gastwirt zu, der sich Zeit ließ und sich ein bisschen zierte.
    «Wenn ihr darauf besteht, will ich euch sagen …»
    Ein lautes, zufriedenes Rumoren war zu hören.
    «Ich will euch alles sagen, was ich weiß», sprach Schloss weiter.
    Die Hälse wurden immer länger und reckten sich ihm entgegen. Er knallte sein Geschirrhandtuch auf den Tresen, legte flach die Hände darauf und blickte dann lange schweigend zur Decke auf. Alle Anwesenden folgten seinem Blick, und hätte irgendjemand in diesem Augenblick das Gasthaus betreten, hätte er sich wahrscheinlich gefragt, warum in aller Welt vierzig schweigende Männer ihre Gesichter zur Decke wandten und fieberhaft die schmutzigen, verrußten Deckenbalken anstarrten, als könnten sie dort die Antwort auf eine wichtige Frage finden.
    «Was ich weiß», sagte Schloss sehr leise, in vertraulichem Ton, und alle schlürften seine Worte wie kostbaren Weinbrand, «was ich weiß, du liebes bisschen, ist, dass ich nicht besonders viel weiß!»
    Wieder gab es lautes Rumoren, doch diesmal hörte es sich enttäuscht und verärgert an. Fäuste hieben auf den Tisch, Schimpfwörter wurden gerufen und so weiter. Schloss hob die Hände, um die Menge zu beschwichtigen, aber er musste fast schreien, damit man ihn hören konnte:
    «Er hat mich nur darum gebeten, dass ich ihm den Saal ab sechs Uhr abends zur Verfügung stelle, damit er alles vorbereiten kann.»
    «Was will er denn vorbereiten?»
    «Weiß ich doch nicht! Aber eins kann ich euch sagen: Er wird euch alle freihalten.»
    Die Zuhörer lachten. Jetzt, da ein Gratisbesäufnis in Aussicht stand, waren die Fragen nicht mehr ganz so dringend. Nach und nach leerte das Gasthaus sich wieder, und auch ich wollte gerade gehen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Es war Schloss.
    «Du hast nichts gesagt, Brodeck?»
    «Ich habe die anderen reden lassen.»
    «Hattest du denn keine Fragen? Vielleicht, weil du die Antworten schon kanntest, weil du eingeweiht bist?»
    «Und warum sollte ich?»
    «Ich habe gesehen, wie du neulich auf sein Zimmer hochgegangen und ein paar Stunden geblieben bist. In dieser langen Zeit müsst ihr euch doch einiges erzählt haben.»
    Schloss’ Gesicht war dicht vor meinem. Sogar um diese Uhrzeit war es schon so heiß, dass er aus allen Poren schwitzte, wie ein Stück Speck, das man in eine heiße Pfanne gelegt hat.
    «Lass mich in Ruhe, Schloss, ich habe zu tun.»
    «So solltest du nicht mit mir reden, Brodeck, so nicht!»
    Damals hatte ich seinen Satz als Drohung verstanden. Aber seit er sich neulich so traurig zu mir gesetzt und von seinem toten Kind erzählt hat, bin ich mir nicht mehr sicher. Manche Menschen sind so ungeschickt, dass man sie völlig verkennt.
    Bei meinem Besuch im Gasthaus hatte ich also nicht viel in Erfahrung gebracht, außer dass es dem Anderen mit seinen parfümierten Kärtchen gelungen war, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war noch früh am Tag, und doch wehte kein

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