Brook, Meljean - Die Eiserne See
Sie warten. Und er hat gesagt, wenn Sie heute Nacht nicht kommen, dann schicken Sie bitte eine Nachricht, dass Sie morgen früh kommen.«
Grauen schnürte Archimedes die Kehle zu, aber er nahm die Nachricht und trat näher an die Lampe heran. Die arabische Handschrift war klein, sauber.
Wolfram,
es hat sich eine Gelegenheit zu wahrer Freiheit ergeben, und deine Hilfe wäre höchst willkommen. Ich werde alles erklären, sobald wir uns sehen. Bitte verzeih die Kürze der Nachricht und die Eile, mit der ich dich rufen lasse. Ich reise morgen aus Port Fallow ab.
Hassan
Archimedes sah zu dem Jungen. »Ruf die Droschke zurück! Sag ihm, er soll auf mich warten!«
Der Junge flitzte zur Tür hinaus.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Yasmeen. Ihre Finger lagen locker auf den Messern, die sie an ihren Schenkeln trug.
»Nein.« Er wollte sie nicht in Gefahr bringen. »Das ist nur ein alter Freund, aber ich weiß nicht, wann ich zurückkehre. Nimm du heute Nacht mein Zimmer; ich nehme zur Not das andere.«
»Bist du dir sicher?« Ihr Blick glitt über sein Gesicht, als suchte sie nach der Wahrheit.
Gott! Er hätte sie in der Droschke küssen sollen. Aber wenn er sie jetzt in seiner Verzweiflung küsste, dann folgte sie ihm garantiert. »Ich bin mir sicher«, sagte er. »Schlaf gut, Captain Corsair!«
Sie lächelte und wandte sich zur Treppe um. »Behalt die Bedienungen im Auge, Archimedes Fox!«
Hoffentlich war das alles , was er im Auge zu behalten hatte.
6
Hassans Unterkunft lag hinter der ersten Gracht, mitten in Port Fallows wohlhabender Wohngegend. Archimedes kannte das Gasthaus; als sein Geldbeutel noch dicker gewesen war, hatte er dort mehrmals in einer wohlausgestatteten Suite übernachtet. Doch wenngleich die Räumlichkeiten größer und komfortabler waren als in seiner derzeitigen Pension, so geziemten sie sich noch lange nicht für den wichtigsten Berater von Temür Agha.
Das Gleiche galt für den Mangel an Schutzleuten und Wachsamkeit, mit dem man Archimedes bei seinem Eintreffen begegnete. Ein Portier in Livree bat ihn hinein und führte ihn die Stufen hinauf. Auf das leise Klopfen des Portiers hin öffnete sich die Tür zu Hassans Suite.
Hassan hatte eigenhändig geöffnet. Ein Lächeln spaltete seinen Vollbart. Er breitete die Arme zu einer Willkommensgeste aus; die weiten Ärmel seines knielangen Gewands flatterten mit der Bewegung. Eine rechteckige Beule unter dem Leinenstoff war alles, was von dem Apparat zu sehen war, den man vor vielen Jahren in den Salzfabriken von Rabat seiner Brust aufgepfropft hatte. Die Lungenspeicher hatten ihn in die Lage versetzt, die Filter der Salzgewinnungsbecken unter Wasser zu reinigen – und sie verliehen bis zum heutigen Tag jedem seiner Atemzüge und Worte ein tiefes metallisches Echo.
»Wolfram!« Er trat vor und umfasste mit beiden Händen seine Hand. »Welche Freude, dich zu sehen!«
Eine freundlichere Begrüßung, als Archimedes erwartet hatte – oder vielleicht auch verdiente. Hassan konnte nicht wissen, dass Archimedes den Frachter mit Temür Aghas Kriegsmaschinen absichtlich versenkt und keinesfalls einfach nur verloren hatte, aber vielleicht vermutete er es ja.
»Ganz meinerseits, Hassan«, antwortete er. »Wenngleich das Wiedersehen unverhofft kommt.«
»Ja, nun – komm! Tritt ein! Ich will dir alles erklären.«
Ein beunruhigender Überschwang, doch Archimedes folgte ihm. Er konnte sich die Ursache für die ungewohnte Herzlichkeit denken – der Kontrollturm der Horde in Rabat war so weit entfernt, dass das Funksignal Hassans Emotionen nicht mehr unterdrücken konnte. Bei jedem vorangegangenen Treffen war der Berater reserviert gewesen und hatte jedes Wort sorgsam abgewogen.
Archimedes freute sich für ihn; wenn Hassan allerdings nicht viel Zeit gehabt hatte, sich an die Veränderung zu gewöhnen, dann hoffte er vielleicht auf eine rasche Rückkehr nach Marokko. Archimedes hatte die dämpfende Wirkung des Turmes einmal am eigenen Leibe erlebt, und die erschreckende Unfähigkeit, etwas zu empfinden, von dem er gewusst hatte, dass er es eigentlich empfinden müsste, lauerte noch immer wie ein Krebsgeschwür in seinem Verstand. Hassan dagegen hatte sein ganzes Leben unter diesem Einfluss gestanden. Möglicherweise war die Intensität seiner Empfindungen für ihn erschreckender als sein sonstiger Mangel daran.
Im Moment jedoch schien sich Hassan lediglich über das Wiedersehen zu freuen.
Linker Hand lag ein in hellen Blautönen gehaltener Salon.
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