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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Schuppen zu bringen, in dem ein Freund von ihm arbeitete, nahe der Stelle, wo die Überseedampfer lagen; wenn sie dem Mann am Schalter seinen Namen sagte, würde sie sich für den Rest des Tages nicht mehr darum zu kümmern brauchen. Sie merkte, dass sie ihm in einem Ton dankte, den Rose hätte benutzen können, einem warmen und persönlichen Ton, der aber auch leicht distanziert war, ohne schüchtern zu klingen, einem Ton, wie ihn eine Frau benutzte, die sich vollkommen unter Kontrolle hatte. In der Stadt oder an einem Ort, wo Angehörige oder Freundinnen sie hätten sehen können, wäre das unmöglich gewesen.
    Sie sah Jack, sobald sie die Fähre verlassen hatte. Sie war sich unschlüssig, ob sie ihn umarmen sollte. Sie hatten sich noch nie umarmt. Als er ihr die Hand entgegenstreckte, blieb sie stehen und sah ihn an. Erst wirkte er befangen, dann lächelte er. Sie ging auf ihn zu, wie um ihn zu umarmen.
    »Das reicht jetzt«, sagte er und stieß sie sanft zurück. »Die Leute glauben am Ende noch …«
    »Was?«
    »Es ist schön, dich zu sehen«, sagte er. Er war rot geworden. »Wirklich schön, dich zu sehen.«
    Er nahm dem Gepäckträger ihre Koffer ab und nannte ihn »Kumpel«, als er ihm dankte. Als er sich umdrehte, versuchte Eilis einen Moment lang noch einmal, ihn zu umarmen, aber er hinderte sie daran.
    »Nichts da«, sagte er. »Rose hat mir eine Liste von Anweisungen geschickt, und eine davon lautete: keine Küsse oder Umarmungen.« Er lachte.
    Sie gingen zusammen die Kaianlagen entlang, an denen Schiffe beladen und entladen wurden. Jack hatte schon den Ozeandampfer gesehen, mit dem Eilis fahren würde, und sobald sie die Koffer wie empfohlen im Hafenschuppen abgestellt hatten, gingen sie ihn sich ansehen. Das Schiff war massig und viel prächtiger und weißer und sauberer als alle Frachter in seiner Umgebung.
    »Der wird dich nach Amerika bringen«, sagte Jack. »Wie Zeit und Geduld.«
    »Wieso Zeit und Geduld?«
    »Mit Zeit und Geduld kommt selbst eine Schnecke nach Amerika. Hast du das noch nie gehört?«
    »Ach, sei nicht so blöd«, sagte sie und stupste ihn lächelnd an.
    »Papa hat das immer gesagt«, erklärte er.
    »Wenn ich gerade nicht im Zimmer war«, erwiderte sie.
    »Mit Zeit und Geduld kommt selbst eine Schnecke nach Amerika«, wiederholte er.
    Es war ein schöner Tag; sie entfernten sich schweigend von den Kaianlagen und gingen ins Stadtzentrum, und Eilis wünschte sich, sie wäre wieder in ihrem eigenen Zimmer oder auch auf dem Schiff, schon draußen auf dem Atlantik. Da sie vor fünf nicht an Bord gehen konnte, fragte sie sich, wie sie den Tag herumbringen würden. Sobald sie ein Café fanden, fragte Jack sie, ob sie Hunger habe.
    »Ein Brötchen vielleicht«, sagte sie, »und eine Tasse Tee.«
    »Dann genieße also deine letzte Tasse Tee«, sagte er.
    »Gibt’s in Amerika keinen Tee?« fragte sie.
    »Machst du Witze? In Amerika fressen sie ihre eigenen Kinder. Und reden mit vollem Mund.«
    Ihr fiel auf, dass Jack, als ein Kellner auf sie zukam, fast entschuldigend nach einem Tisch fragte. Sie setzten sich ans Fenster.
    »Rose meinte, du musst später anständig zu Mittag essen für den Fall, dass das Essen auf dem Schiff nicht nach deinem Geschmack ist«, erklärte ihr Bruder.
    Nachdem sie bestellt hatten, schaute sich Eilis im Café um.
    »Wie sind sie?« fragte sie.
    »Wer?«
    »Die Engländer.«
    »Die sind in Ordnung, sie sind anständig«, sagte Jack. »Wenn man seine Arbeit macht, dann respektieren sie einen. Das ist das einzige, was sie interessiert, die meisten von ihnen. Auf der Straße wird man ein bisschen angepöbelt, aber nur Samstag nachts. Man achtet einfach nicht darauf.«
    »Was sagen sie denn?«
    »Nichts, was ein ordentliches Mädchen, das nach Amerika geht, hören sollte.«
    »Sag’s mir!«
    »Ganz bestimmt nicht.«
    »Schimpfwörter?«
    »Ja, aber man lernt, nicht darauf zu achten, und wir haben unsere eigenen Pubs, also passieren kann höchstens was auf dem Heimweg. Die Regel lautet, nie zurückzupöbeln, immer so tun, als wär nichts.«
    »Und da, wo du arbeitest?«
    »Da ist es anders. Es ist ein Ersatzteilhandel. Alte Autos und kaputte Maschinen kommen aus dem ganzen Land dorthin. Wir bauen die auseinander und verkaufen die Einzelteile weiter, bis hin zu einzelnen Schrauben und dem Schrott.«
    »Und was genau tust du? Du kannst mir alles sagen.« Sie sah ihn lächelnd an.
    »Ich bin für den Lagerbestand verantwortlich. Sobald ein Auto zerlegt worden ist,

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