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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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langsam am Schrankkoffer vorbei und verließ den Raum.
    Später, als die Schiffsmaschine, die sich erstaunlich nah an ihrer Kajüte zu befinden schien, in Gang kam und eine laute Sirene in regelmäßigen Abständen zu tuten begann, kehrte Georgina zurück, um ihren Mantel zu holen. Nachdem sie sich im Bad das Haar gebürstet hatte, forderte sie Eilis auf, mit an Deck zu kommen, um die Lichter von Liverpool zu sehen, wenn das Schiff ablegte.
    »Vielleicht treffen wir einen netten Menschen«, sagte sie, »der uns in die Erste-Klasse-Lounge einlädt.«
    Eilis nahm Mantel und Schal und folgte ihr mühsam um den Schrankkoffer herum. Es war ihr ein Rätsel, wie Georgina ihn die Treppe hinunterbekommen hatte. Erst als sie auf Deck im schwindenden Abendlicht standen, konnte sie sich die Frau, mit der sie die Kajüte teilte, genau ansehen. Sie schätzte Georgina aufirgendwas zwischen dreißig und vierzig, vielleicht auch älter. Ihr Haar war hellblond, und frisiert war sie wie ein Filmstar. Sie bewegte sich selbstsicher, und als sie sich eine Zigarette anzündete und den ersten Zug tat und dabei die Lippen schürzte und die Augen verengte und den Rauch durch die Nase ausstieß, wirkte sie außerordentlich gelassen und glamourös.
    »Schauen Sie sich die an«, sagte sie und zeigte auf eine Gruppe von Menschen, die jenseits einer Absperrung standen und gleichfalls die kleiner werdende Stadt betrachteten. »Das sind die Passagiere der ersten Klasse. Die haben die beste Aussicht. Aber ich weiß einen Schleichweg. Kommen Sie mit.«
    »Ich bin hier ganz zufrieden«, sagte Eilis. »In einer Minute gibt’s sowieso nichts mehr zu sehen.«
    Georgina drehte sich um, sah sie an und zuckte die Achseln. »Ganz wie Sie möchten. Aber so wie es aussieht, und nach dem, was ich gehört habe, wird das eine von diesen Nächten, eine von den ganz schlimmen. Der Steward, der meinen Koffer hinuntergetragen hat, sagte, das würde eine von diesen Nächten werden.«
    An Deck wurde es schnell dunkel und windig. Eilis fand den Speisesaal der dritten Klasse und setzte sich allein hin, während ein einzelner Kellner die Tische um sie herum deckte; schließlich bemerkte er sie und brachte ihr, ohne ihr auch nur die Speisekarte zu zeigen, einen Teller Ochsenschwanzsuppe, dem etwas folgte, was sie für gekochtes Hammelfleisch mit Soße, Erbsen und Kartoffeln hielt. Während sie aß, schaute sie sich um, konnte Georgina aber nirgendwo sehen und wunderte sich über die große Anzahl unbesetzter Tische. Sie fragte sich, ob der größte Teil der Kabinen erster und zweiter Klasse waren und ob die dritte Klasse lediglich aus der kleinen Anzahl von Leuten bestand, die sie jetzt im Speisesaal sah beziehungsweise auf Deck gesehen hatte. Sie hielt das für unwahrscheinlich und fragte sich, wo die übrigen stecken mochten und wo sie ihr Essen bekommen würden.
    Als der Kellner ihr ihre Grütze mit Vanillesoße brachte, war niemand mehr im Speisesaal. Sie dachte sich, dass Georgina, da dies das einzige Restaurant der dritten Klasse war, in die erste oder zweite geschlichen sein musste, nahm aber nicht an, dass das leicht zu bewerkstelligen war. Da es keine Lounge oder Bar für die dritte Klasse gab, konnte sie ohnehin nichts tun, als in ihre Kabine zurückzugehen und sich ins Bett zu legen. Sie war müde, und sie hoffte, einschlafen zu können.
    Als sie sich in der Kabine die Zähne putzen und das Gesicht waschen wollte, stellte sie fest, dass die Leute auf der anderen Seite die Tür abgeschlossen hatten; sie nahm an, dass sie gerade das Bad benutzten, und wartete darauf, dass sie fertig wurden und die Tür aufschlossen. Sie lauschte, hörte aber nichts außer dem Lärm der Maschine, die ihr laut genug vorkam, um jedes etwaige Geräusch aus dem Badezimmer zu übertönen. Nach einer Weile ging sie hinaus auf den Gang und blieb eine Zeitlang vor der Tür der benachbarten Kabine stehen, konnte aber nichts hören. Sie fragte sich, ob die Passagiere darin sich schon schlafen gelegt hatten, und wartete weiter im Gang in der Hoffnung, Georgina würde kommen. Georgina würde wissen, was zu tun war, so wie Rose oder ihre Mutter es gewusst hätten – oder auch Miss Kelly, deren Gesicht ihr für einen kurzen Moment in den Sinn kam. Sie aber hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.
    Nach einer Weile klopfte sie leise an die Tür, dann, als keine Reaktion kam, fester, für den Fall, dass man sie nicht gehört hatte. Wieder kam keine Reaktion. Da der Dampfer ausgebucht war und

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