Brooklyn
während Eilis völlig zufrieden damit gewesen wäre, zu Hause zu bleiben. Aber Rose hatte eine Arbeit in der Stadt und sie nicht, und deswegen fiel es Rose leicht, sich aufzuopfern, da es nicht wie ein Opfer aussah. In diesen Augenblicken, als Rose ihr ein paar Broschen anbot, hätte Eilis alles dafür gegeben, einfach sagen zu können, sie wolle nicht fort, Rose solle statt dessen gehen, sie werde liebend gern dableiben und für ihre Mutter sorgen und irgendwie zurechtkommen und vielleicht eine andere Arbeit finden.
Sie fragte sich, ob auch ihre Mutter glaubte, dass die falsche Tochter das Haus verließ, und Rose’ Motive verstand. Sie stellte sich vor, dass ihre Mutter alles wusste. Sie wussten so viel, dachte sie, alle beide, dass sie alles fertiggebracht hätten, nur nicht laut auszusprechen, was sie dachten. Als sie in ihr Zimmer zurückging, beschloss sie, dass sie für die beiden alles tun würde, was in ihrer Macht stand, indem sie sich von früh bis spät begeistert gab und gespannt auf das große Abenteuer, auf das sie sich einließ. Sie würde möglichst so tun, als freute sie sich auf Amerika und darauf, zum erstenmal von zu Hause wegzugehen. Sie gelobte sich selbst, dass sie sich den beiden gegenüber nicht das geringsteanmerken lassen würde, und auch sich selbst würde sie, wenn es sein musste, ihre wahren Gefühle so lange verheimlichen, bis sie fort wäre.
Es herrschte schon so, sagte sie sich, genug Traurigkeit im Haus, vielleicht sogar mehr, als ihr klar war. Sie würde ihr Bestes tun, um sie nicht noch zu vermehren. Täuschen, da war sie sich sicher, würde sie ihre Mutter und Rose nicht können, aber es schien ihr noch einen wichtigeren Grund zu geben, weswegen vor ihrer Abreise keine Tränen fließen durften. Sie würden nicht nötig sein. Was in den Tagen vor und am Morgen ihrer Abreise nötig sein würde, war, dass sie lächelte, so dass sie sie lächelnd in Erinnerung behalten würden.
Rose nahm sich den Tag frei und begleitete sie nach Dublin. Sie aßen zusammen zu Mittag im Gresham Hotel, und dann war es Zeit für das Taxi zur Fähre nach Liverpool, wo Jack sie in Empfang nehmen und den Tag mit ihr verbringen wollte, bevor sie zu ihrer langen Seereise nach New York aufbrach. An dem Tag in Dublin war Eilis bewusst, dass es etwas anderes war, zum Arbeiten nach Amerika arbeiten zu gehen, als lediglich die Fähre nach England zu nehmen; Amerika mochte weiter weg und in seinen Sitten und Gebräuchen ganz und gar fremd sein, doch es besaß eine Faszination, die das alles fast wettmachte. Auch wenn man bloß als Verkäuferin in einem Geschäft in Brooklyn arbeitete und in einem möblierten Zimmer ein paar Straßen entfernt wohnte und das alles einem Priester zu verdanken hatte, hatte das etwas Romantisches an sich, und dessen waren sie und Rose sich voll bewusst, als sie im Gresham ihre Mahlzeit bestellten, nachdem sie das Gepäck auf dem Bahnhof aufgegeben hatten. In einem Geschäft in Birmingham oder Liverpool oder Coventry oder selbst in London zu arbeiten, wäre im Vergleich damit todlangweilig gewesen.
Rose hatte sich für den Anlass schön angezogen, und Eilis hattesich bemüht, so gut wie möglich auszusehen. Mit einem bloßen Lächeln brachte Rose den Hotelportier dazu, sich an die O’Connell Street zu stellen und ihnen ein Taxi zu besorgen, wobei er darauf bestand, dass sie solange im Foyer warteten. Am Hafen durfte man ohne Fahrkarte nicht weiter als bis zu einer bestimmten Stelle gehen; Rose jedoch machte für sich eine Ausnahme mit Hilfe des Fahrkartenkontrolleurs, der einen Kollegen holte, damit er den Damen mit ihren Koffern half. Er erklärte Rose, sie dürfe bis eine halbe Stunde vor der planmäßigen Abfahrt auf dem Schiff bleiben, dann würde er sie abholen und zurückbegleiten und anschließend jemanden finden, der während der Überfahrt nach Liverpool ein Auge auf ihre Schwester haben würde. Selbst Erste-Klasse-Passagiere wurden nicht so zuvorkommend behandelt, meinte Eilis zu Rose, die wissend lächelte und ihr recht gab.
»Manche Leute sind nett«, sagte sie, »und wenn man mit ihnen auf die richtige Weise redet, können sie sogar noch netter sein.«
Sie lachten beide.
»Das wird meine Devise in Amerika sein«, sagte Eilis.
Als die Fähre am frühen Morgen in Liverpool ankam, half ihr ein Gepäckträger, der Ire war, mit den Koffern. Als sie ihm erklärte, dass ihr Schiff nach Amerika erst gegen Abend ablegen werde, riet er ihr, ihr Gepäck sofort zu einem
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