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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Eilis klar, dass sie weinen würde. Eilis war so überrascht, dass sie, anstatt ihrer Mutter in den Flur oder ins Esszimmer zu folgen, mit der Nachbarin plauderte in der Hoffnung, ihre Mutter würde bald zurückkommen, und sie würden das, was ihr wie eine gewöhnliche Unterhaltung erschienen war, wiederaufnehmen können.
    Selbst als sie in dieser Nacht aufwachte und darüber nachdachte, gestattete sie sich nicht, den Schluss zu ziehen, dass sie gar nicht wegfahren wollte. Statt dessen ging sie im Geist sämtliche Vorkehrungen durch und machte sich Gedanken, wie sie ganz allein zwei Koffer mit all ihren Kleidern tragen und dabei aufpassen sollte, dass sie die Handtasche nicht verlor, die Rose ihr geschenkt hatte; darin würde sie ihren Reisepass aufbewahren, und die Adressen, wo sie in Brooklyn wohnen und arbeiten würde, und Father Floods Adresse für den Fall, dass er entgegen seinem Versprechen nicht da sein würde, um sie abzuholen. Und Geld. Und ihr Schminktäschchen. Und vielleicht einen Mantel, den sie über dem Arm würde tragen müssen, obwohl sie ihn vielleicht auch anziehen würde, es sei denn, es war zu heiß. Und Ende September, hatte man sie vorgewarnt, konnte es ohne weiteres noch heiß sein.
    Einen Koffer hatte sie schon gepackt, und während sie in Gedanken dessen Inhalt noch einmal durchging, hoffte sie, ihn nicht wiederaufmachen zu müssen. In einer dieser Nächte, als sie wach lag, war ihr plötzlich bewusst geworden, wenn sie diesen Koffer das nächstemal aufmachte, wäre es in einem anderen Zimmer in einem anderen Land, und dann kam ihr ganz von selbst der Gedanke in den Sinn, dass es ihr viel lieber wäre, wenn es eineandere Person sein würde, die ihn öffnete, und dass sie ruhig die Kleider und Schuhe behalten und jeden Tag anziehen könnte. Sie würde lieber daheimbleiben, in diesem Zimmer schlafen, in diesem Haus wohnen und auf die Kleider und Schuhe verzichten. Es wäre besser, die Vorbereitungen, die getroffen wurden, all die Aufregung und all die Gespräche würden jemand anders gelten, jemandem wie sie, jemandem, der so alt und so groß war wie sie, der vielleicht sogar so aussah wie sie, solange sie selbst, die Person, die das jetzt dachte, weiterhin jeden Morgen in diesem Bett aufwachen und später am Tag durch diese vertrauten Straßen gehen und dann heimkommen könnte in die Küche, zu ihrer Mutter und Rose.
    Auch wenn sie diesen Gedanken freien Lauf ließ, hielt sie doch inne, sobald sie sich in Richtung wirklicher Furcht bewegten oder, schlimmer noch, auf die Ahnung zu, dass sie im Begriff war, diese Welt für immer zu verlieren, dass sie nie wieder einen normalen Tag an diesem normalen Ort erleben und der Rest ihres Lebens ein einziger Kampf mit dem Unvertrauten sein würde. Unten, sobald Rose und ihre Mutter da waren, redete sie über praktische Dinge und blieb heiter.
    Eines Abends, als Rose sie in ihr Zimmer bat, damit sie sich ein paar Schmuckstücke zum Mitnehmen aussuchte, kam Eilis eine neue Erkenntnis, die sie mit ihrer Wucht und Klarheit überraschte. Rose war jetzt dreißig, und da es offensichtlich war, dass ihre Mutter nie würde allein leben können, nicht nur wegen ihrer kleinen Rente, sondern auch, weil sie sich ohne zumindest eines ihrer Kinder zu einsam fühlen würde, bedeutete Eilis’ Abreise, die Rose so sorgfältig organisiert hatte, dass Rose nie würde heiraten können. Sie würde bei ihrer Mutter bleiben und ihr bisheriges Leben weiterführen müssen, mit ihrer Arbeit im Büro von Davis’s und dem Golfspiel am Wochenende und an den Sommerabenden. Indem sie es ihr leichtmachte zu gehen, gab Rose jede realistische Hoffnung auf, ihrerseits je das Elternhaus zu verlassen und eineneigenen Hausstand zu gründen, mit einer eigenen Familie. Während Eilis vor dem Spiegel der Frisierkommode saß und einige Halsketten anprobierte, erkannte sie, dass Rose in Zukunft, wenn ihre Mutter älter und gebrechlicher wurde, noch mehr als bisher für sie würde sorgen müssen, mit Essenstabletts die steile Treppe hinaufsteigen und putzen und kochen, wenn ihre Mutter es selbst nicht mehr konnte.
    Und als sie Ohrringe anprobierte, kam ihr außerdem der Gedanke, dass Rose das ebenfalls alles wusste und entschieden hatte, Eilis ziehen zu lassen. Als sie sich umdrehte und ihre Schwester ansah, hätte Eilis am liebsten vorgeschlagen, dass sie tauschten, da Rose, die immer so offen für das Leben war, immer schnell neue Freunde fand, glücklicher sein würde, nach Amerika zu gehen,

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