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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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kalte Luft; sie hatte den Eindruck, dass das Wetter umgeschlagen war. Aber jetzt spielte es kaum eine Rolle, wie das Wetter war. Sie fand in einem Diner einen Sitzplatz, wo sie allen den Rücken zukehren konnte und niemand Bemerkungen über ihren Gesichtsausdruck machen würde.
    Als sie den Kaffee ausgetrunken und ein Brötchen gegessen und es geschafft hatte, die Kellnerin auf sich aufmerksam zu machen und die Rechnung zu bezahlen, merkte sie, dass sie sich zu wenig Zeit für den Weg zur Arbeit gelassen hatte. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie sich zum erstenmal verspäten. Die Bürgersteige waren voller Menschen, und es war nicht leicht, sie zu überholen. Irgendwann fragte sie sich, ob die Leute ihr nicht absichtlich den Weg versperrten. Es dauerte lang, bis die Ampel auf Grün schaltete. Als sie dann auf der Fulton Street war, wurde es sogar noch schlimmer; es war so, als strömten Menschenmassen aus einem Fußballstadion. Selbst normales Schrittempo warschwer beizubehalten. Sie kam im Bartocci’s genau eine Minute vor Arbeitsbeginn an. Sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, den ganzen Tag dazustehen und immer freundlich und aufmerksam zu wirken. In dem Moment, in dem sie oben in ihrer Arbeitskleidung erschien, sah sie auch schon Miss Fortinis Blick: er wirkte missbilligend, als sie auf sie zukam, allerdings wurde Eilis dann von einer Kundin abgelenkt. Nachdem sie die Kundin abgefertigt hatte, achtete sie darauf, nicht wieder in Miss Fortinis Richtung zu schauen. Sie kehrte ihr den Rücken zu, solange es ging.
    »Sie sehen unwohl aus«, sagte Miss Fortini, als sie sich ihr näherte.
    Eilis spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.
    »Warum gehen Sie nicht nach unten und trinken ein Glas Wasser, und ich komme in einer Minute nach?« fragte Miss Fortini. Ihre Stimme klang freundlich, aber sie lächelte nicht.
    Eilis nickte. Ihr fiel ein, dass sie noch nicht bezahlt worden war; sie lebte noch immer von dem Geld, das Rose ihr gegeben hatte. Sie wusste nicht, ob sie ihren Lohn bekommen würde, wenn sie sie feuerten. Falls nicht, würde sie binnen kurzem überhaupt kein Geld mehr haben. Es würde schwer sein, eine andere Stelle zu finden, aber selbst wenn es ihr gelänge, müsste sie ihren Lohn schon am Ende der ersten Woche bekommen, andernfalls könnte sie Mrs. Kehoe die Miete nicht bezahlen.
    Unten ging sie in den Waschraum und wusch sich das Gesicht. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel und begann, ihr Haar in Ordnung zu bringen. Dann wartete sie im Aufenthaltsraum auf Miss Fortini.
    »Jetzt müssen Sie mir erzählen, was los ist«, sagte sie, sobald sie das Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ich sehe nämlich, dass etwas los ist, und bald werden das die ersten Kundinnen ebenfalls merken, und dann stecken wir alle in Schwierigkeiten.«
    Eilis schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was los ist.«
    »Haben Sie Ihre Tage?« fragte Miss Fortini.
    Eilis schüttelte wieder den Kopf.
    »Eilis« – sie sprach den Namen merkwürdig aus, mit einer zu starken Betonung der zweiten Silbe –, »was haben Sie auf dem Herzen?« Sie stand vor ihr und wartete. »Soll ich Miss Bartocci holen?« fragte sie.
    »Nein.«
    »Was dann?«
    »Ich weiß nicht, was es ist.«
    »Sind Sie traurig?«
    »Ja.«
    »Die ganze Zeit?«
    »Ja.«
    »Wünschen Sie sich, Sie wären daheim bei Ihren Angehörigen?«
    »Ja.«
    »Haben Sie hier Verwandte?«
    »Nein.«
    »Niemand?«
    »Niemand.«
    »Wann hat es damit angefangen? Letzte Woche waren Sie noch vergnügt.«
    »Ich hab ein paar Briefe bekommen.«
    »Schlechte Nachrichten?«
    »Nein, nein, gar nicht.«
    »Nur die Briefe? Waren Sie früher schon mal im Ausland?«
    »Nein.«
    »Von Ihren Eltern getrennt?«
    »Mein Vater ist tot.«
    »Und Ihre Mutter?«
    »Ich war noch nie von ihr getrennt.«
    Miss Fortini sah sie an, aber ohne zu lächeln.
    »Ich werde mit Miss Bartocci und dem Priester reden müssen, mit dem Sie hergekommen sind.«
    »Bitte nicht.«
    »Sie werden Ihnen keine Probleme machen. Aber Sie können hier nicht arbeiten, wenn Sie traurig sind. Und natürlich sind Sie traurig, wenn Sie zum erstenmal in Ihrem Leben von Ihrer Mutter getrennt sind. Aber die Traurigkeit wird vergehen, und bis dahin werden wir für Sie tun, was wir können.«
    Miss Fortini forderte sie auf, sich zu setzen, schenkte ihr noch ein Glas Wasser ein und verließ dann das Zimmer. Eilis war klar, dass man sie nicht feuern würde. Infolgedessen war sie fast stolz darauf,

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