Brooklyn
Zimmer gehen und sie öffnen und die Neuigkeiten aus der Heimat lesen würde.
An der Handschrift erkannte sie, dass die Briefe von ihrer Mutter, Rose und Jack stammten. Sie beschloss, den ihrer Mutter als erstes zu lesen und sich Rose’ Brief bis zum Schluss aufzusparen. Der Brief ihrer Mutter war kurz und enthielt keinerlei Neuigkeiten, lediglich eine Liste von Leuten, die sich nach ihr erkundigten,nebst einigen näheren Angaben, wo ihre Mutter sie getroffen hatte und wann. Jacks Brief war nicht viel anders, nahm aber Bezug auf die Überfahrt, von der sie ihm in ihrem Brief erzählt und die sie in ihrem Brief an ihre Mutter und Rose nur sehr knapp abgehandelt hatte. Rose’ Handschrift war wie immer sehr schön und klar. Sie schrieb vom Golfspiel und von der Arbeit und wie ruhig und langweilig Enniscorthy war, und was für ein Glück Eilis hatte, inmitten der Lichter der Großstadt zu sein. In einer Nachschrift meinte sie, Eilis wolle ihr vielleicht von Zeit zu Zeit gern gesondert über persönliche Angelegenheiten oder Dinge schreiben, die ihre Mutter zu sehr in Unruhe versetzen würden. Sie schlug vor, dass Eilis solche Briefe an ihre Arbeitsstelle adressieren könnte.
Die Briefe verrieten Eilis wenig; sie enthielten kaum etwas Persönliches und nichts, was wie eine eigene Stimme geklungen hätte. Trotzdem vergaß sie, während sie sie ein ums andere Mal las, eine Zeitlang, wo sie war, und sie konnte sich ihre Mutter in der Küche vorstellen, wie sie ihren Basildon-Bond-Schreibblock und ihre Kuverts nahm und sich daranmachte, einen ordentlichen Brief ohne irgendwelche Streichungen zu schreiben. Rose konnte ins Esszimmer gegangen sein, um auf Papier zu schreiben, das sie von der Arbeit mit nach Haus genommen hatte, und hatte es dann in ein weißes Kuvert gesteckt, das länger und eleganter war als das, das ihre Mutter benutzt hatte. Eilis stellte sich vor, dass Rose ihren Brief wahrscheinlich auf den Tisch im Flur gelegt und ihre Mutter ihn am nächsten Morgen zusammen mit ihrem eigenen zum Postamt getragen hatte, da sie für Amerika besondere Briefmarken kaufen musste. Wo Jack seinen Brief geschrieben hatte – der kürzer als die beiden anderen war, fast verlegen im Ton, als wollte er nicht zuviel preisgeben –, konnte sie sich nicht vorstellen.
Sie lag auf dem Bett mit den Briefen neben sich. In den letzten paar Wochen, wurde ihr jetzt bewusst, hatte sie kaum an zu Hausegedacht. Die Stadt war ihr in blitzartig auftauchenden Bildern in den Sinn gekommen, so wie am Vormittag während des Ausverkaufs, und sie hatte natürlich an ihre Mutter und Rose gedacht, aber ihr eigenes Leben in Enniscorthy, das Leben, das sie verloren hatte und nie wieder führen würde, hatte sie aus ihren Gedanken verbannt. Jeden Tag war sie in das kleine Zimmer in diesem Haus voller Geräusche zurückgekehrt und hatte alles Neue Revue passieren lassen, das sie erlebt hatte. Jetzt schien das alles nichts im Vergleich mit dem Bild, das sie von zu Hause hatte, von ihrem eigenen Zimmer, dem Haus in der Friary Street, dem, was sie dort gegessen, den Kleidern, die sie getragen hatte, mit der Stille überall.
Das alles legte sich ihr wie eine entsetzliche Last auf die Seele, und einen Moment lang glaubte sie, gleich weinen zu müssen. Es war so, als ob ein Schmerz in ihrer Brust versuchte, ihr Tränen zu entlocken, trotz der ungeheuren Anstrengung, die sie unternahm, um sie zurückzuhalten. Sie gab dem Drang nicht nach. Sie überlegte, bemühte sich herauszufinden, was dieses neue Gefühl verursacht hatte, diese Niedergeschlagenheit, ähnlich der, die sie empfunden hatte, als ihr Vater gestorben war und sie zugeschaut hatte, wie der Sarg geschlossen wurde, im Wissen, dass er die Welt nie wiedersehen würde und sie nie mehr mit ihm würde reden können.
Hier war sie niemand. Es lag nicht nur daran, dass sie hier keine Freundinnen und Verwandten hatte; eher war sie ein Gespenst, in diesem Zimmer, auf den Straßen auf dem Weg zur Arbeit, im Kaufhaus. Nichts hatte irgendeine Bedeutung. Die Zimmer des Hauses in der Friary Street, dachte sie, gehörten zu ihr; wenn sie sich dort aufgehalten hatte, war sie wirklich da. Wenn sie in der Stadt zum Laden oder zur Berufsschule ging, waren die Luft, das Licht, der Boden unter ihren Füßen fest und ein Teil von ihr, selbst wenn sie niemand Bekanntes traf. Hier war nichts ein Teil von ihr. Alles war unecht, dachte sie, leer. Sieschloss die Augen und versuchte, wie sie es schon so oft in ihrem Leben
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