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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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sah Miss Fortini sie über den Raum hinweg an, und sie versuchte erneut, fröhlich und entgegenkommend auszusehen, als sei es ein ganz normaler Arbeitstag.
    Das Abendessen war nicht so anstrengend, wie sie befürchtet hatte, da Patty und Diana sich beide neue Schuhe gekauft hatten und Mrs. Kehoe, bevor sie sie uneingeschränkt billigen konnte, sehen musste, zu was für einem Kostüm oder Kleid und zu welchen Accessoires die Mädchen sie tragen würden. Die Küche verwandelte sich vor und nach dem Abendessen in eine Modenschau, bei der Miss McAdam und Miss Keegan jedesmal, wenn Patty oder Diana mit den Schuhen und in einer jeweils neuen Aufmachung und mit einer anderen Handtasche ins Zimmer kamen, einmütig ihre Zustimmung verweigerten.
    Mrs. Kehoe bezweifelte, sobald sie Dianas Schuhe zusammen mit dem Kostüm, zu dem sie passen sollten, gesehen hatte, dass sie elegant genug seien.
    »Sie sind weder Fisch noch Fleisch«, sagte sie. »Auf der Arbeit können Sie sie nicht tragen, und für abends, zum Ausgehen, sind sie nicht gerade überwältigend. Ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie sie gekauft haben, außer sie waren reduziert.«
    Diana machte ein betretenes Gesicht und gestand, sie seien nicht reduziert gewesen.
    »Na dann«, sagte Mrs. Kehoe, »kann ich nur eins sagen: Hoffentlich haben Sie die Quittung behalten.«
    »Also, mir gefallen sie eigentlich«, sagte Miss McAdam.
    »Mir auch«, fügte Sheila Heffernan hinzu.
    »Aber wann würden Sie sie denn tragen?« fragte Mrs. Kehoe.
    »Sie gefallen mir einfach«, sagte Miss McAdam und zuckte die Achseln.
    Eilis schlich sich davon, froh, weil niemandem aufgefallen war, dass sie während des ganzen Essens kein Wort gesagt hatte. Sie fragte sich, ob sie jetzt aus dem Haus sollte, irgendwas tun, nur um sich nicht in dieser Gruft von einem Schlafzimmer all den Gedanken stellen zu müssen, die ihr im Wachen und all den Träumen, die ihr im Schlaf kommen würden. Sie blieb im Flur stehen, doch dann wandte sie sich zur Treppe, da sie erkannte, dass sie auch vor dem, was draußen war, Angst hatte und sie, selbst wenn es nicht so gewesen wäre, gar nicht gewusst hätte, wo sie um diese Zeit überhaupt hätte hingehen können. Ihr war klar, dass sie dieses Haus verabscheute, seine Gerüche, seine Geräusche, seine Farben. Als sie die Treppe hinaufstieg, weinte sie schon. Solange die anderen unten in der Küche ihre Garderobe erörterten, konnte sie so laut weinen, wie sie wollte, ohne dass man sie hören würde.
    Diese Nacht war die schlimmste, die sie jemals erlebt hatte. Erst als der Morgen graute, erinnerte sie sich an etwas, das Jack damals in Liverpool gesagt hatte, bevor sie an Bord gegangen war – vor Jahren, wie es ihr jetzt vorkam. Er hatte gesagt, in der ersten Zeit sei es schwer gewesen, aber er war nicht näher darauf eingegangen, und sie hatte nicht daran gedacht, ihn zu fragen, wie es wirklich gewesen war. Er war von seiner ganzen Art her so freundlich und gutmütig, genau wie ihr Vater, dass er sich ohnehin nicht beklagt hätte. Sie spielte mit dem Gedanken, ihm jetzt zu schreiben und ihn zu fragen, ob er sich auch so gefühlt hatte, so als sei er eingesperrt worden und sitze an einem Ort fest, an dem es nichts gab. Es war wie die Hölle, dachte sie, weil ein Ende nicht abzusehen war, weder würde sich die Situation ändern noch ihre Gefühle. Aber es war eine seltsame Qual, sie spielte sich alleinin ihrem Kopf ab, es war wie die Ankunft der Nacht, wenn man wusste, dass man nie wieder etwas bei Tageslicht sehen würde. Sie wusste nicht, was sie tun würde. Aber sie wusste, Jack war zu weit weg, um ihr helfen zu können.
    Keiner von ihnen konnte ihr helfen. Sie hatte sie alle verloren. Sie würden von alldem nichts erfahren; sie würde nicht darüber schreiben. Und ebendeswegen, begriff sie, würden sie sie niemals so kennen, wie sie jetzt war. Vielleicht, dachte sie, hatten sie sie überhaupt nie gekannt, keiner von ihnen, denn sonst hätte ihnen klar sein müssen, was das hier für sie bedeutete.
    Sie lag da, während der Tag anbrach; sie glaubte nicht, dass sie noch eine solche Nacht überstehen könnte. Einen Moment fügte sie sich still in die Aussicht, dass sich nichts ändern würde, aber sie wusste nicht, was die Konsequenzen sein oder welche Form sie annehmen würden. Wieder stand sie früh auf, verließ geräuschlos das Haus und streifte eine Stunde lang durch die Straßen, bevor sie eine Tasse Kaffee trinken ging. Jetzt spürte sie zum erstenmal die

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