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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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getan hatte, an etwas zu denken, auf das sie sich freuen konnte, aber es gab nichts. Nicht das geringste. Nicht einmal auf den Sonntag. Auf nichts außer vielleicht auf den Schlaf, und sie war sich nicht einmal sicher, dass sie sich darauf freute. Auf jeden Fall konnte sie noch nicht schlafen, da es noch nicht einmal neun war. Es gab nichts, was sie tun konnte. Es war, als sei sie eingesperrt.
    Am nächsten Morgen kam es ihr so vor, als habe sie nicht so sehr geschlafen als vielmehr eine Reihe von sehr plastischen Träumen durchlebt, denen sie noch eine Weile nachgehangen hatte, um nicht die Augen öffnen und das Zimmer sehen zu müssen. Einer der Träume drehte sich um das Gerichtsgebäude am oberen Ende der Friary Hill in Enniscorthy. Sie erinnerte sich jetzt, wie sich die Nachbarn immer vor dem Gerichtstag gefürchtet hatten – nicht wegen der Fälle, über die in den Zeitungen berichtet wurde, wie Diebstahl oder Trunkenheit oder Erregung öffentlichen Ärgernisses, sondern weil das Gericht manchmal anordnete, dass Kinder der öffentlichen Fürsorge unterstellt wurden, in Waisenhäuser oder Besserungsanstalten oder zu Pflegefamilien kamen, weil sie die Schule schwänzten oder Ärger machten oder Probleme mit ihren Eltern hatten. Manchmal sah man untröstliche Mütter vor dem Gerichtsgebäude schreien und heulen, wenn ihre Kinder weggebracht wurden. Aber in ihrem Traum kamen keine schreienden Frauen vor, nur etliche stumme Kinder, darunter Eilis selbst, die in einer Reihe standen und wussten, dass sie bald auf Anordnung des Richters weggeführt werden würden.
    Seltsam fand sie jetzt, wo sie wach lag, dass sie sich offenbar darauf gefreut hatte, weggeführt zu werden, dass sie keine Angst davor gehabt hatte. Angst hatte sie vielmehr davor gehabt, ihre Mutter vor dem Gerichtsgebäude zu sehen. Im Traum hatte sie es geschafft, ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen. Sie wurde aus der Reihe geholt und durch eine Seitentür hinausgeführt und auf eineAutofahrt mitgenommen, die so lange zu dauern schien, wie sie es schaffte weiterzuschlafen.
    Sie stand auf und benutzte sehr leise das Bad; sie nahm sich vor, in einem der Diner auf der Fulton Street zu frühstücken, wie sie es auf dem Weg zur Arbeit auch andere hatte machen sehen. Sobald sie fertig angezogen war, schlich sie auf Zehenspitzen aus dem Haus. Sie wollte keine der anderen sehen. Es war erst halb sieben. Sie würde irgendwo eine Stunde sitzen, Kaffee trinken und ein Sandwich essen und dann früh zur Arbeit gehen.
    Kaum war sie unterwegs, begann ihr vor dem Tag zu grauen. Später, als sie am Tresen eines Diners saß und die Speisekarte studierte, fielen ihr Bruchstücke eines anderen Traums ein, an den sie sich nach dem Aufwachen nur noch halb erinnert hatte. Sie flog, wie in einem Ballon, an einem ruhigen Tag über die ruhige See. Unten konnte sie das Steilufer bei Cush Gap erkennen und den weichen Sand bei Ballyconnigar. Der Wind trieb sie auf Blackwater zu, dann nach Ballagh, dann Monageer, dann zum Vinegar Hill und Enniscorthy. Sie war so versunken in die Erinnerung an diesen Traum, dass der Kellner hinter dem Tresen fragte, ob etwas nicht stimme.
    »Alles in Ordnung«, sagte sie.
    »Sie sehen traurig aus«, erwiderte er.
    Sie schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln und bestellte Kaffee und ein Sandwich.
    »Kopf hoch«, sagte er, jetzt lauter. »Kommen Sie, Kopf hoch. So schlimm wird’s schon nicht werden. Jetzt lächeln Sie mal.«
    Einige der anderen Gäste am Tresen sahen sie an. Sie wusste, es würde ihr nicht gelingen, die Tränen zurückzuhalten. Sie wartete nicht ab, bis ihre Bestellung kam, sondern rannte aus dem Lokal, bevor jemand noch ein weiteres Wort an sie richten konnte.
    Den ganzen Tag über hatte sie das Gefühl, dass Miss Fortini sie häufiger als sonst beobachtete, und dies brachte ihr eindringlich zu Bewusstsein, was für einen Eindruck sie machte, wenn sie nichtgerade mit einer Kundin zu tun hatte. Sie versuchte, zur Tür zu schauen und zu den Fenstern zur Straße und hinaus auf die Straße, sie versuchte, beschäftigt auszusehen, aber sie merkte, wenn sie nicht dagegen ankämpfte, konnte sie leicht in eine Art Trance versinken, in der sie immer wieder an dieselben Dinge dachte, an alles, was sie verloren hatte, und sich fragte, wie sie es ertragen würde, am Abend zurückzugehen und mit den anderen zu essen, und dann die lange Nacht allein in einem Zimmer zu verbringen, das nichts mit ihr zu tun hatte. Und wenn sie dann aufschaute,

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