Brooklyn
Keegan ausgezogen war. Dann aber sagte sie sich, dass Mrs. Kehoe in der Zeit vor ihrem Umzug ins Souterrain nicht mit Sicherheit davon hatte ausgehen können, dass Eilis nicht von der Sache erfahren würde. Je länger sie Miss McAdam beobachtete, desto mehr war sie davon überzeugt, dass sie die Geschichte von dem Mann, der sich entblößt hatte, wenn schon nicht erfunden, so doch aufgebauscht hatte. Sie fragte sich, ob Miss McAdam von den anderen Mieterinnen dazu angestiftet worden war, oder ob sie auf eigene Verantwortung handelte.
»Es ist ein schönes Zimmer«, sagte Eilis.
»Schön ist es schon«, erwiderte Miss McAdam. »Und als Miss Keegan das Zimmer bekam, hätten wir es alle gern selbst gehabt, schon um zu vermeiden, dass die Kehoe, sobald man durch die Haustür kommt, einem hinterherspioniert. Aber jetzt möchte ich nicht bei eingeschaltetem Licht da unten sein, wo einen jeder sehen kann. Vielleicht sollte ich den Mund halten.«
»Sagen Sie, was immer Sie möchten.«
»Also, für jemand, der nachts allein zu Fuß nach Hause geht, wirken Sie sehr gelassen.«
»Sollte sich jemand vor mir entblößen, werden Sie die erste sein, die davon erfährt.«
»Falls ich dann noch hier bin«, sagte Miss McAdam. »Vielleicht müssen wir früher oder später alle nach Long Island.«
Auch in den darauffolgenden Tagen konnte sich Eilis kein endgültiges Urteil bilden über das, was Miss McAdam gesagt hatte. Während der gemeinsamen Mahlzeiten in der Küche schwanktesie zwischen dem Glauben, alle Mieterinnen hätten sich als Rache dafür, dass sie in Miss Keegans Zimmer einquartiert worden war, dazu verschworen, ihr Angst einzujagen, und dem Glauben, Mrs. Kehoe habe sie nicht etwa dort untergebracht, weil sie sie bevorzugte, sondern weil sie diejenige war, von der sie am wenigsten befürchten musste, dass sie protestieren würde. Sie sah ihnen forschend ins Gesicht, wenn sie mit ihr sprachen, aber es war nichts zu erkennen. Sie wollte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass alle durchaus edle Motive hatten, aber es war unwahrscheinlich, dass Mrs. Kehoe ihr das Zimmer wahrhaftig aus purer Großzügigkeit gegeben hatte, und ebenso unwahrscheinlich, dass es Miss McAdam und den anderen wirklich nichts ausmachte und sie sie lediglich vor dem Mann hatten warnen wollen, der Miss Keegan gefolgt war, damit sie sich in acht nahm. Sie wünschte, sie hätte eine echte Freundin unter ihren Mitbewohnerinnen, die sie um Rat bitten könnte. Und dann fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht selbst das Problem war, weil sie dort böse Absichten vermutete, wo keine waren. Wenn sie nachts aufwachte oder wenn ihr bei der Arbeit die Zeit lang wurde, ließ sie sich alles wieder durch den Kopf gehen und gab in dem einen Moment Mrs. Kehoe alle Schuld, in dem nächsten ihren Mitbewohnerinnen und zuletzt sich selbst. Am Ende gelangte sie zu keinem anderen Schluss, als dass es am besten sein würde, wenn sie ganz damit aufhörte, darüber nachzudenken.
Am darauffolgenden Sonntag kündigte Father Flood an, dass der Gemeindesaal jetzt für die Veranstaltung von Tanzabenden hergerichtet sei und damit Mittel für wohltätige Zwecke gesammelt werden könnten. Er hatte Pat Sullivan’s Harp and Shamrock Orchestra engagiert und bat die Gemeindemitglieder, die Nachricht weiterzuverbreiten, dass der Tanzabend zum erstenmal am letzten Freitag im Januar und danach bis auf weiteres an jedem Freitagabend stattfand.
Als Mrs. Kehoe an dem Abend kurz den Pokertisch verließ und in die Küche kam und sich an den Tisch setzte, unterhielten sich die Mieterinnen gerade über die Tanzveranstaltung.
»Ich hoffe, Father Flood weiß, was er tut«, sagte Mrs. Kehoe. »Nach dem Krieg wurden in demselben Gemeindesaal auch schon Tanzabende veranstaltet, und er musste wegen Unsittlichkeit geschlossen werden. Es kamen etliche Italiener und wollten mit irischen Mädchen anbandeln.«
»Also, ich weiß nicht, was daran schlimm sein sollte«, sagte Diana. »Mein Vater ist Italiener, und ich glaube, er hat meine Mutter auf einem Tanzabend kennengelernt.«
»Bestimmt ist er sehr nett«, sagte Mrs. Kehoe, »aber nach dem Krieg waren manche Italiener ziemlich aufdringlich.«
»Sie sehen richtig gut aus«, sagte Patty.
»Wie dem auch sei«, sagte Mrs. Kehoe, »bestimmt sehen manche von ihnen wirklich gut aus, aber nach dem, was ich gehört habe, sollte man bei vielen von ihnen sehr vorsichtig sein. Aber genug von Italienern. Es wäre besser für uns alle, wenn wir jetzt
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