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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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anderen nichts ausmachen, dass ich das Zimmer bekomme?« fragte Eilis.
    »O doch«, sagte Mrs. Kehoe und lächelte sie an. Dann schaute sie ins Feuer und nickte zufrieden. Sie hob den Kopf und sah Eilis gleichmütig in die Augen. Es dauerte einen Moment, bis Eilis begriff, dass Mrs. Kehoe ihr damit zu verstehen gab, dass sie jetzt gehen sollte. Sie stand leise auf, während Mrs. Kehoe noch einmal die rechte Hand ausstreckte, um ihr zu bedeuten, ja kein Geräusch zu machen.
    Während sie zu ihrem Zimmer hinaufging, kam Eilis der Verdacht, dass das Souterrainzimmer doch feucht und klein sein könnte. Sie hatte bis dahin noch keines der Mädchen sagen hören, es sei das beste Zimmer im Haus. Sie fragte sich, ob diese ganze Geheimniskrämerei nicht lediglich den Zweck hatte, sie dort einzuquartieren, ohne ihr die Möglichkeit zu lassen, das Zimmer vorher zu besichtigen oder Einspruch zu erheben. Sie würde warten müssen, begriff sie, bis sie am Montagabend vom Unterricht zurückkäme.
    Im Lauf der nächsten paar Tage begann ihr vor dem Umzug zu grauen, und sie ärgerte sich zunehmend bei der Vorstellung, dass Mrs. Kehoe ihre Koffer in ihrer Abwesenheit nehmen und in einen Raum schaffen würde, aus dem Miss Keegan täglich in einem Zustand herauskam, der Eilis nicht eben dafür zu sprechen schien, dass sie das beste Zimmer im Haus hatte. Und sollte sich das Zimmer als schäbig oder dunkel oder feucht erweisen, könnte sie sich unmöglich bei Father Flood beklagen. Sie hatte sein Mitgefühl schon genug strapaziert und wusste, dass Mrs. Kehoe das völlig klar war.
    Nachdem sie am Sonntag ihre Koffer gepackt und neben das Bett gestellt hatte, stellte sie fest, dass sie sich mehr Dinge angeschafft hatte, als sie darin unterbringen konnte. Sie musste also hinuntergehen und Mrs. Kehoe leise um ein paar Tragebeutel bitten; sie hatte das Gefühl, Mrs. Kehoe habe sie ausgenutzt, und plötzlich begann sie das gleiche heftige Heimweh zu empfinden wie schon einmal. In dieser Nacht tat sie kein Auge zu.
    Am Morgen wehte ein für sie ungewohnt scharfer Wind. Er schien heftig aus jeder Richtung zu blasen; er trug Eis mit sich, und die Leute hielten auf den Straßen die Köpfe gesenkt, und manche hüpften vor Kälte auf und ab, während sie darauf warteten, die Straße überqueren zu können. Sie musste beinah lächeln beim Gedanken, dass niemand in Irland wusste, dass Amerika das kälteste Land auf Erden war und seine Bürger an einem so kaltem Morgen wie diesem die allerunglücklichsten Menschen. Wenn sie es in einem Brief schriebe, würden sie ihr nicht glauben. Im Bartocci’s schrien die Leute den ganzen Tag über jeden an, der die Tür eine Sekunde länger als nötig offen ließ, und warmes wollenes Unterzeug wurde viel verlangt, noch mehr als gewöhnlich.
    An dem Abend musste sich Eilis, während sie sich Notizen zu den Vorlesungen machte, so anstrengen, um wach zu bleiben, dass sie keinen Gedanken daran verschwendete, was sie bei Mrs. Kehoe erwarten mochte. Und als sie von der Straßenbahnhaltestelle heimging, sagte sie sich, dass es ihr ganz egal war, wie ihr neues Zimmer aussah, solange es warm war und ein Bett darin stand, in dem sie schlafen konnte. Es war ganz still, da der Wind sich gelegt hatte, und in der eisigen Kälte schmerzten Zehen und Finger und ihr ganzes Gesicht. Sie betete darum, schon zu Hause zu sein, als sie erst die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatte.
    Sobald sie die Haustür geöffnet hatte, erschien Mrs. Kehoe im Flur und legte den Finger an die Lippen. Sie bedeutete Eilis zu warten, kehrte einen Moment später zurück und händigte ihr, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand aus der Küche in den Flur kam, einen Schlüssel aus; dann dirigierte sie sie wieder hinaus in die Nacht und machte die Haustür leise hinter ihr zu. Als Eilis die Souterraintür aufschloss, wartete Mrs. Kehoe schon auf sie.
    »Still!« flüsterte sie.
    Sie öffnete die Tür, die in den vorderen Raum des Souterrainsführte, das Zimmer, das Miss Keegan erst vor kurzem geräumt hatte. Eine Stehlampe in einer Ecke und eine Lampe auf einem Nachttisch brannten schon; das Licht, die niedrige Decke, die dunklen Samtvorhänge, die prächtig gemusterte Tagesdecke und die Teppiche ließen das Zimmer geradezu luxuriös erscheinen, wie etwas aus einem Gemälde oder einer alten Photographie. Eilis bemerkte in der Ecke einen Schaukelstuhl und sah, dass im Kamin Scheite lagen und darunter Papier, fertig zum Anzünden. Der Raum war

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