Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
Vom Netzwerk:
sah ihre Zimmerwirtin an, ohne sich einschüchtern zu lassen. Sie war fest entschlossen, nichts mehr zu sagen, gleichgültig, was Mrs. Kehoe äußern mochte. Sie hatte das Gefühl, dass sich der Ärger der älteren Frau so gegen sie richtete, als habe sie sie auf irgendeine unerklärliche Weise verraten. Doch dann begriff sie, dass der großzügige Akt, ihr dieses Zimmer zu geben, etwas in Mrs. Kehoe freigesetzt hatte, irgendeinen tiefen Groll gegen die Welt, den sie jetzt wieder mit Bedacht zurückdrängte.
    »Das Bad ist, wie gesagt, am Ende des Korridors«, sagte Mrs. Kehoe schließlich. »Und hier ist der Schlüssel.«
    Sie legte den Schlüssel auf einen Beistelltisch, verließ das Zimmer und knallte die Tür so zu, dass das ganze Haus es hören würde.

    Eilis fragte sich, ob die anderen ihr jemals glauben würden, wenn sie ihnen erzählte, dass sie nicht darum gebeten hatte, das Zimmer zu bekommen. Sie mied die Küche zur Frühstückszeit, und als sie am zweiten Morgen Diana im Bad begegnete, eilte sie an ihr vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Sie wusste allerdings, dass am Wochenende eine Diskussion mit den anderen nicht zu umgehen sein würde. Und so war Eilis nicht überrascht, als Miss McAdam am Freitag abend, nachdem Mrs. Kehoe die Küche verlassen hatte, zu ihr sagte, sie würde sie gern allein sprechen. Von Miss McAdams beäugt, als sei sie ein Sträfling auf Freigang, der sich jederzeit absetzen konnte, blieb sie in der Küche, bis alle anderen gegangen waren.
    »Sie haben sicher gehört, was passiert ist«, sagte Miss McAdam.
    Eilis setzte eine verständnislose Miene auf.
    »Setzen Sie sich lieber hin.«
    Miss McAdam ging zum Kessel, der zu kochen begann, und füllte die Teekanne, bevor sie wieder den Mund aufmachte.
    »Wissen Sie, warum Miss Keegan ausgezogen ist?« fragte sie.
    »Woher sollte ich das wissen?«
    »Sie wissen es also nicht? Habe ich mir gedacht. Tja, die Kehoe weiß es, und alle anderen wissen es auch.«
    »Wo ist Miss Keegan hin? Hatte sie Probleme?«
    »Nach Long Island. Und zwar aus triftigen Gründen.«
    »Was ist passiert?«
    »Jemand ist ihr nach Haus gefolgt.« Miss McAdams Augen schienen vor Erregung zu glitzern. Sie schenkte den Tee langsam ein.
    »Gefolgt?«
    »Nachts, nicht ein-, sondern zweimal, vielleicht sogar häufiger.«
    »Sie meinen, hierhergefolgt?«
    »Genau das meine ich.«
    Miss McAdam trank einen Schluck von ihrem Tee, ohne Eilis dabei einen Augenblick aus den Augen zu lassen.
    »Und wer ist ihr gefolgt?«
    »Ein Mann.«
    Als Eilis Milch und Zucker in ihren Tee tat, fiel ihr etwas ein, das ihre Mutter immer sagte.
    »Aber wenn ein Mann mit Miss Keegan durchbrennen würde, würde er sie doch bestimmt an der ersten Straßenlaterne, sobald er sie richtig sehen könnte, stehen lassen.«
    »Aber es war kein normaler Mann.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Das letztemal, als er ihr gefolgt ist, hat er sich vor ihr entblößt. So eine Sorte Mann war das.«
    »Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »Miss Keegan hat, bevor sie gegangen ist, vertraulich mit mir und Miss Heffernan gesprochen. Sie wurde direkt bis zur Tür dieses Hauses verfolgt. Und als sie die Treppe hinunterstieg, hat der Mann sich entblößt.«
    »Hat sie die Polizei gerufen?«
    »Natürlich hat sie das, und dann hat sie ihre Sachen gepackt. Sie glaubt, den Mann zu kennen. Sie glaubt zu wissen, wo er wohnt. Und er war ihr schon vorher gefolgt.«
    »Hat sie das alles der Polizei gesagt?«
    »Ja, aber die kann nichts tun, solange sie nicht bereit ist, ihn zu identifizieren, und dazu ist sie nicht bereit. Also hat sie ihre Sachen gepackt und ist zu ihrem Bruder und dessen Frau nach Long Island gezogen. Und dann, als ob das noch nicht reichte, wollte mich die Kehoe in Miss Keegans Zimmer einquartieren. Sie hat mir lang und breit erklärt, das sei das beste Zimmer im Haus. Ich habe ihr klipp und klar meine Meinung gesagt. Und Miss Heffernan ist in einem entsetzlichen Zustand. Diana hat sich geweigert, allein im Souterrain zu bleiben. Also hat sie Sie da unten reingesteckt, weil keine der anderen dort einziehen wollte.«
    Eilis bemerkte, dass Miss McAdam sehr zufrieden mit sich wirkte. Während sie der älteren Frau dabei zusah, wie sie ihren Tee trank, kam ihr der Gedanke, dass sie sich vielleicht auf diese Weise an Eilis und Mrs. Kehoe wegen des Zimmers rächte. Andererseits konnte es auch die Wahrheit sein. Mrs. Kehoe hatte sie möglicherweise schlicht benutzt, als die einzige Mieterin, die nicht wusste, warum Miss

Weitere Kostenlose Bücher